Auch seine türkischen Diener ließ Wiedenburg rufen.
Der eine, ein starker und kluger Mann, der Englisch verstand und ein Kaufmann aus Kars war und teils aus Lust am Abenteuerlichen, teils durch die Versprechungen Wiedenburgs bewogen, ihn in der Stellung eines Dieners begleitet hatte, versprach ebenfalls aufmerksam zu sein und den Deutschen von allem Verdächtigen zu unterrichten. Dann genoss Wiedenburg von der einfachen Abendmahlzeit, welche die kurdischen Diener ihm gebracht hatten, und setzte sich bei dem Schein einer kleinen Tonlampe auf die Kissen, um zu überlegen und zu lauschen.
Es war einige Stunden später, als Mary Hywell sich auf die Bitten ihres Vaters entschloss, ihr Lager aufzusuchen und ein wenig zu schlummern. Der Vater, der noch einmal bei Wiedenburg gewesen und durch diesen von allem unterrichtet war und der sich leise und heimlich wieder in das Zimmer Marys geschlichen, hatte seiner Tochter nichts von den Gefahren gesagt, die ihr vielleicht in den nächsten Stunden bevorstanden, und ihr nur das freudige Zusammentreffen Wiedenburgs mit George und die nahende Hilfe berichtet. Aber schon seine Gegenwart hatte ihr verraten müssen, dass etwas Außergewöhnliches im Werke sei, und sie war nur schwer zu bewegen, sich angekleidet auf die Kissen und Teppiche zu legen und zu tun, als ob sie schlummere. Die beiden Dienerinnen, ängstliche, schüchterne Frauen, die jetzt infolge der langen Furcht und mancher Entbehrungen fast Schatten glichen, waren dem Beispiel ihrer Herrin gefolgt und saßen halb liegend in einem Raume, der durch einen Vorhang von dem Lager Marys getrennt war.
Mr. Hywell hatte sich neben Marys Lager auf dem Fußboden niedergesetzt, sich mit dem Arm auf die Kissen stützend, auf denen Mary ruhte. Eine Tonlampe von der einfachen Form, wie man sie im Altertum kannte und noch heute im Orient findet, erhellte den Raum, der durch einen Vorhang von dem größern Wohnraum des Zimmers geschieden war, mit ihrem flackernden, ungleichen Lichte. So saß der bejahrte Mann und lauschte den Atemzügen seiner Tochter, die ruhiger und ruhiger wurden, obwohl Mary nicht schlief, wie der Vater glaubte.
Welche Gedanken erfüllten den schwer geprüften Mann! Welcher Wechsel des Schicksals, welche seltsame, unheimliche Lage! Er, der in seinem Vaterlande in ruhigster Sicherheit hätte schlafen können, sich einwiegend mit dem Gedanken, dass sein liebliches Kind zur gleichen Zeit süß von unschuldigen Scherzen träume, er, der mit banger Sehnsucht dem Zeitraum entgegengesehen hatte, in welchem ein würdiger und verdienter Mann neben der kindlichen Liebe eine andere und noch innigere in Marys Seele erwecken werde, er saß hier mit schwerem Herzen, weit von der Heimat, mit der Waffe in der Hand, um den Schlaf der Tochter zugleich mit ihrer Unschuld vor der Leidenschaft eines Menschen zu schützen, dem Blut ein Spott und das edelste Weib nur eine verlockend geformte, aber geistlose Masse war, für einige Zeit genügend, ihm die trägen Zwischenräume zwischen seinen Raub- und Jagdzügen zu verkürzen. Alles, alles das fühlte er mit der ganzen scharfen Bitterkeit des erfahrenen Mannes, mit dem heißen Schmerz des zärtlichen Vaters. Und in seiner Brust reifte jene kalte Entschlossenheit, die bereit ist, eher das Leben des eigenen Kindes zu enden, als es untergehen zu lassen in Jammer, Verzweiflung und Schande. Hatten Hunderte und Tausende vor ihm das Liebste geopfert, was sie auf dieser Welt besaßen, um es nicht berühren zu lassen von unreiner Hand, weshalb sollte er feiger oder grausamer sein als sie alle? Und musste dem Manne, der auferzogen war in reinster Verehrung der Frauen, der zu seiner früh verlorenen Gattin aufgeblickt, wie zu einem Wesen höherer Art, der sein Kind in seinem Herzen gehegt als das Juwel seines Lebens, musste ihm diese Hand, die sich nach Mary ausstreckte, nicht als eine unreine erscheinen, wenn er bedachte, in welchen Ansichten und in welchen Formen der Gesittung dieser junge Kurde erzogen worden?
Er saß und lauschte, aber das Weben seiner Gedanken wiegte dennoch die Schärfe seines Ohres in Schlummer. Er hörte den leisen, katzenartigen Schritt nicht, der über den Teppich des Zimmers schlich, er hörte nicht, wie eine Hand vorsichtig den Vorhang auseinanderschlug. Aber Mary hatte es gehört und begann schneller zu atmen; sie ahnte die Nähe dessen, von dem ihr Gefahr drohte. Die beschleunigten Atemzüge trafen das Ohr des Vaters; unwillkürlich blickte er auf. Nur wenige Schritte von ihm, den Vorhang noch mit der einen Hand haltend, stand Kaschir-Aga.
Der junge Kurde mochte den Engländer, der tief neben dem Lager Marys saß, bis jetzt nicht gesehen haben. Jetzt, als dieser den Kopf erhob, musste er ihn erblicken, und für einen Augenblick schrak er zurück. Der bewundernde, begehrliche Ausdruck seines Blickes wich dem der Überraschung, dem des Trotzes. Noch hatte er die Waffe in der Hand Mr. Hywells nicht bemerken können. Er trat näher, fest entschlossen. Er war ungefähr in derselben Tracht, in welcher der Engländer ihn zuerst gesehen. Das deutete auf ein Vorhaben, auf eine bevorstehende Unternehmung. Der Armenier und Wiedenburg hatten sich nicht getäuscht, er kam, um Mary mit sich zu nehmen.
Mr. Hywell erhob sich. Auch er fühlte in diesem entscheidenden Augenblick die ganze Kälte der verzweifelten Entschlossenheit. Er war mit sich·einig, den Kurden zu töten, wenn dieser sich nicht entferne. Mochte dann kommen, was da wollte, der Tod war für ihn und Mary nicht das Schlimmste! Es war ein unheimlicher Anblick, wie die beiden Männer sich gegenüberstanden, während Mary regungslos an ihrem Lager ruhte, nicht wagend, die Augen zu öffnen, und nur durch das Rauschen der Kleider belehrt, dass ihr Vater sich erhoben. Das Bewusstsein, dass keiner von beiden des andern Sprache verstehe, erhöhte das Unheimliche dieser Szene. Gebärden, Bewegungen, Mienenspiel mussten hier entscheiden, wo es sich um Tod und Leben handelte. Kaschir-Aga deutete mit der Hand an, Mr. Hywell möge sich entfernen; der Engländer schüttelte ruhig den Kopf. Der Kurde trat vor; Mr. Hywell trat ihm schnell und entschlossen einige Schritte entgegen, sodass er zwischen ihm und Mary stand, nur auf Armeslänge von ihm entfernt. Die Augen des Kurden funkelten, die Adern seiner Stirn schwollen an, seine Brust atmete höher, die Nasenlöcher schienen sich zu erweitern und er zischte einige Worte – wohl einen Fluch – durch die zusammengepressten Zähne. Dann griff er nach dem Gürtel, der von Dolchen und Pistolen starrte. Aber Mr. Hywell erhob drohend das Terzerol. Auch dem Kurden musste diese kalte Bewegung verständlich sein. Mr. Hywell drohte seinem Gegner mit dem Tode, wenn er noch eine Bewegung mache.
Da teilte sich der Vorhang, der hinter Kaschir-Aga zusammengefallen war, leise, geräuschlos, und es zeigte sich eine Gestalt in türkischer Tracht – Wiedenburg. Er legte den Finger auf die Lippen, zum Zeichen des Schweigens. Mehr sah Mr. Hywell für den Augenblick nicht, oder erinnerte sich wenigstens nicht, mehr gesehen zu haben. Er sah die Faust des Kurden blitzschnell nach seinem Kopfe fahren und fuhr zurück; dennoch traf ihn ein Schlag und er taumelte. Im nächsten Moment aber sich aufraffend, sah er den Kurden in den Armen Wiedenburgs, die ihn von hinten umspannt hatten.
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