„Warten Sie!“, rief sie aus.
Der Hirte hielt an, drehte sich herum und starrte sie an.
„Kennen Sie meinen Vater?“, fragte sie.
Zu Caitlins Überraschung nickte der Mann langsam.
„Wo ist er?“, fragte Caitlin.
„Es liegt an dir, das herauszufinden“, sagte er. „Du bist diejenige, die die Schlüssel trägt.“
„Wer ist er?“, fragte Caitlin, es unbedingt wissen wollend.
Langsam schüttelte der Mann den Kopf.
„Ich bin nur ein Hirte auf meinem Weg.“
„Aber ich weiß nicht einmal, wo ich suchen soll!“, erwiderte Caitlin verzweifelt. „Bitte. Ich muss ihn finden.“
Der Hirte fing langsam zu lächeln an.
„Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist“, sagte er.
Und damit bedeckte er seinen Kopf, drehte sich herum und durchquerte den Platz. Er trat durch den Torbogen und einen Augenblick später war er verschwunden, seine Schafe hinterher.
Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist.
Seine Worte hallten Caitlin durch den Kopf. Irgendwie ahnte sie, dass es mehr war als nur eine Allegorie. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr hatte sie das Gefühl, es war wortwörtlich gemeint. Als wollte er ihr sagen, dass es genau hier einen Hinweis gab, wo sie stand.
Caitlin drehte sich plötzlich herum und suchte den Brunnen ab, die Stelle, an der sie gesessen hatten. Nun spürte sie etwas.
Stets ist der beste Ort zum Suchen genau da, wo du bist.
Sie kniete nieder und fuhr mit den Händen über die uralte, glatte Steinmauer. Sie fühlte sie der Länge nach ab, immer überzeugter, dass da etwas war, dass sie an einen Hinweis geführt worden war.
„Was tust du?“, fragte Caleb.
Caitlin suchte krampfhaft, untersuchte alle Risse in allen Steinen, fühlte, dass sie auf der richtigen Spur war.
Schließlich, halb um den Brunnen herum, hielt sie inne. Sie fand eine Ritze, die etwas größer war als die anderen. Gerade groß genug, um ihren Finger hineinzustecken. Der Stein um sie herum war einfach ein klein wenig zu glatt, und die Ritze einfach ein klein wenig zu groß.
Caitlin fasste hinein und versuchte, ihn herauszubekommen. Bald schon fing der Stein zu wackeln an, dann bewegte er sich. Der Stein lockerte sich und ließ sich aus der Brunnenmauer ziehen. Dahinter, stellte sie erstaunt fest, lag ein kleines Versteck.
Caleb kam näher, über ihre Schulter gebeugt, als sie in die Dunkelheit hineinfasste. Sie spürte etwas Kaltes und Metallisches in ihrer Hand und holte es langsam hervor.
Sie hob ihre Hand ins Licht und öffnete sie langsam.
Sie konnte nicht glauben, was sich darin befand.
KAPITEL FÜNF
Scarlet stand mit Ruth am Ende der Sackgasse, mit dem Rücken zur Wand, und musste ängstlich zusehen, wie die fiesen Kerle ihren Hund auf sie hetzten. Augenblicke später ging der riesige wilde Hund auf sie los, knurrte und zielte direkt auf ihre Kehle. Alles ging so schnell, dass Scarlet kaum wusste, was sie tun sollte.
Bevor sie reagieren konnte, fauchte Ruth plötzlich und stürzte sich auf den Hund. Sie sprang in die Luft und traf auf halber Strecke auf den Hund, und versenkte ihre Zähne in seinem Hals. Ruth landete auf ihm und drückte ihn zu Boden. Der Hund muss doppelt so groß wie Ruth gewesen sein, und doch hielt Ruth ihn mühelos fest und ließ ihn nicht hochkommen. Sie drückte mit aller Kraft ihre Zähne zusammen und schon bald hörte der Hund auf, sich zu wehren, und war tot.
„Du kleines Miststück!“, schrie der Anführer wütend.
Er sprang aus der Gruppe hervor und ging direkt auf Ruth los. Er hob einen Stock, der an einem Ende zu einer Speerspitze geschnitzt war, und schlug damit direkt auf Ruths ungeschützten Rücken zu.
Scarlets Reflexe setzten ein und sie sprang in Aktion. Ohne überhaupt nachzudenken lief sie auf den Jungen los und fing seinen Stock in der Luft ab, knapp bevor er Ruth damit traf. Dann zog sie ihn an sich, holte aus und trat ihm kräftig in die Rippen.
Er beugte sich vornüber und sie trat erneut zu, diesmal ins Gesicht mit einem Rundum-Tritt. Es wirbelte ihn herum und er landete mit dem Gesicht voran auf dem Steinboden.
Ruth drehte sich herum und ging auf den Trupp Jungs los. Sie sprang hoch in die Luft und bohrte ihre Zähne in den Hals eines der Jungen, und drückte ihn zu Boden. Somit blieben nur noch drei von ihnen übrig.
Scarlet stand da, ihnen zugewandt, und plötzlich durchzog sie ein neues Gefühl. Sie fühlte sich nicht länger ängstlich; sie wollte nicht länger vor diesen Jungen davonlaufen; sie wollte sich nicht länger zusammenkauern und verstecken; sie wollte nicht länger von Mama und Papa beschützt werden.
Etwas in ihr schaltete um, als sie eine unsichtbare Linie überschritt, einen Knackpunkt. Sie fühlte, zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie niemand anderen brauchte. Alles, was sie brauchte, war sie selbst. Anstatt den Moment zu fürchten, genoss sie ihn nun.
Scarlet spürte, wie sie von Wut durchflossen wurde, die aus ihren Zehenspitzen aufstieg, durch ihren Körper, bis in die Haarspitzen. Es war eine elektrische Emotion, die sie nicht verstand, eine, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Sie wollte nicht länger vor diesen Jungs davonlaufen. Sie wollte auch nicht, dass sie davonkamen.
Nun wollte sie Rache.
Während die drei Jungs dastanden und schockiert starrten, griff Scarlet an. Alles ging so schnell, dass sie es kaum verarbeiten konnte. Ihre Reflexe waren so viel schneller als die der Jungs, als würden sie sich in Zeitlupe bewegen.
Scarlet sprang in die Luft, höher als je zuvor, und trat den Jungen in der Mitte mit beiden Füßen in die Brust. Er flog rücklings wie eine Kanonenkugel durch die Gasse, bis er in die Mauer krachte und zusammenbrach.
Bevor die anderen beiden noch reagieren konnten, wirbelte sie herum und schlug einem von ihnen den Ellbogen ins Gesicht, dann trat sie dem anderen in die Magengrube. Beide gingen bewusstlos zu Boden.
Scarlet stand mit Ruth da und atmete schwer. Sie blickte sich um und sah alle fünf Jungs um sie herum ausgestreckt liegen und sich nicht bewegen. Und dann erkannte sie: sie war der Sieger.
Sie war nicht länger die Scarlet, die sie einst gekannt hatte.
Scarlet streunte stundenlang durch die Gassen, Ruth an ihrer Seite, und brachte so viel Abstand wie sie nur konnte zwischen sich und diese Jungs. Sie bog in eine Gasse nach der anderen in der Hitze, verlief sich im Labyrinth der schmalen Seitengassen in der Altstadt von Jerusalem. Die Mittagssonne brannte auf sie herunter, und sie fühlte sich langsam schwindelig davon; sie fühlte sich auch schwindelig vom Mangel an Nahrung und Wasser. Sie konnte Ruth neben sich schwer hecheln hören, während sie sich durch die Menge schlängelten, und sie konnte sehen, dass auch sie litt.
Ein Kind kam an Ruth vorbei und packte sie am Rücken, zerrte spielerisch an ihr, aber zu fest. Ruth drehte sich herum und schnappte nach ihm, knurrte und fletschte die Zähne. Das Kind schrie, fing zu weinen an und rannte davon. Es sah Ruth nicht ähnlich, sich so zu verhalten; normalerweise war sie so duldsam. Doch es schien, als würden die Hitze und der Hunger auch ihr zusetzen. Sie spiegelte auch Scarlets eigene Wut und ihren Frust wieder.
So sehr sie sich bemühte, wusste Scarlet nicht, wie sie ihre restlichen Wutgefühle abschalten sollte. Es war, als wäre etwas in ihr entfesselt worden, und sie konnte es nicht wieder zügeln. Sie spürte ihre Adern pochen, die Wut pulsieren, und als sie an einem Händler nach dem anderen vorbeikam, die alle Arten von Speisen anboten, die sie und Ruth sich nicht leisten konnten, wurde ihr Zorn nur noch größer. Ihr wurde auch langsam klar, dass das, was sie durchmachte, ihre intensiven Hungerschmerzen, keine gewöhnlichen Hungergefühle waren.