Ruth knurrte neben ihr. Scarlet konnte eine gröbere Konfrontation kommen spüren—und genau das wollte sie vermeiden.
Sie bückte sich und fing an, Ruth davonzuführen.
„Komm mit, Ruth“, sagte Scarlet, während sie sich herumdrehte und anfing, davonzugehen.
„He Mädel, ich rede mit dir!“, schrie der Junge.
Im Davongehen blickte Scarlet über die Schulter zurück und sah, wie die Fünf vom Stein sprangen und begannen, ihr nachzugehen.
Scarlet fing zu laufen an, zurück in die Gassen, und wollte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diese Jungen bringen. Sie dachte an die Auseinandersetzung mit dem römischen Soldaten zurück und fragte sich einen Moment lang, ob sie stehenbleiben und versuchen sollte, sich zu verteidigen.
Doch sie wollte nicht kämpfen. Sie wollte niemandem wehtun. Oder irgendein Risiko eingehen. Sie wollte einfach nur Mama und Papa finden.
Scarlet bog in eine menschenleere Gasse ein. Sie blickte hinter sich, und in wenigen Momenten konnte sie die Gruppe Jungen ihr nachjagen sehen. Sie waren nicht weit hinter ihr, und sie holten schnell auf. Zu schnell. Ihr Hund rannte mit ihnen, und Scarlet konnte sehen, dass sie sie in wenigen Augenblicken eingeholt haben würden. Sie würde einen guten Haken schlagen müssen, um sie abzuhängen.
Scarlet bog um eine weitere Ecke und hoffte, einen Ausweg zu finden. Doch da blieb ihr das Herz stehen.
Es war eine Sackgasse.
Scarlet drehte sich langsam herum, Ruth an ihrer Seite, und stellte sich den Jungen. Sie waren nun vielleicht drei Meter entfernt. Sie wurden langsamer, als sie näherkamen, nahmen sich Zeit, genossen den Moment. Sie standen lachend da, mit grausamen Grinsern auf dem Gesicht.
„Sieht aus, als hättest du Pech gehabt, kleines Mädchen“, sagte der Anführer.
Scarlet dachte genau das Gleiche.
KAPITEL DREI
Sam erwachte unter rasenden Kopfschmerzen. Er hielt sich mit beiden Händen den Kopf und versuchte, den Schmerz so loszuwerden. Doch es gelang ihm nicht. Es fühlte sich an, als würde die ganze Welt auf seinen Schädel eindonnern.
Sam versuchte, die Augen zu öffnen, um herauszufinden, wo er war, und dabei wurde der Schmerz unerträglich. Blendendes Sonnenlicht spiegelte von Felsen in der Wüste wider und zwang ihn, seine Augen abzuschirmen und den Kopf zu senken. Er spürte, dass er auf felsigem Wüstenboden lag, spürte die trockene Hitze, spürte den Staub, der ihm ins Gesicht stieg. Er krümmte sich wie ein Fötus zusammen und hielt seinen Kopf fester, versuchte, den Schmerz zu vertreiben.
Erinnerungen kamen zurück.
Zuerst an Polly.
Er erinnerte sich an Caitlins Hochzeitsnacht. Die Nacht, in der er Polly einen Antrag gemacht hatte. Wie sie Ja gesagt hatte. Die Freude auf ihrem Gesicht.
Er erinnerte sich an den folgenden Tag. Wie er zur Jagd gegangen war. Wie er sich auf ihren gemeinsamen Abend gefreut hatte.
Er erinnerte sich daran, wie er sie gefunden hatte. Am Ufer. Im Sterben. Wie sie ihm von ihrem Baby erzählt hatte.
Wellen von Trauer schlugen über ihm zusammen. Es war mehr, als er bewältigen konnte. Es war wie ein schrecklicher Alptraum, der sich wiederholt in seinem Kopf abspielte, einer, den er nicht abschalten konnte. Er fühlte sich, als wäre alles, wofür es sich für ihn noch zu leben gelohnt hatte, von ihm genommen worden in einem einzigen großen Moment. Polly. Das Baby. Das Leben, wie er es kannte.
Er wünschte sich, er wäre in jenem Moment gestorben.
Dann erinnerte er sich an seine Vergeltung. Seine Rage. Wie er Kyle getötet hatte.
Und an den Moment, der alles verändert hatte. Er erinnerte sich daran, wie Kyles Geist in ihn gefahren war. Er erinnerte sich an das unbeschreibliche Gefühl der Rage, das Gefühl, dass der Geist und die Seele einer anderen Person ihm aufgedrängt wurden, ihn ganz und gar besessen hatten. Es war der Moment, in dem Sam aufhörte, zu sein, wer er war. Es war der Moment, in dem er zu jemand anderem wurde.
Sam öffnete seine Augen zur Gänze und er spürte, er wusste, dass sie glühend rot waren. Er wusste, dass sie nicht länger ihm gehörten. Er wusste, dass es nun Kyles Augen waren.
Er spürte Kyles Hass, spürte Kyles Macht, die durch ihn strömten, durch jede Faser seines Körpers, von seinen Zehen durch die Beine hoch in seine Arme, bis hin zu seinem Kopf. Er spürte Kyles Zerstörungsdrang durch seinen Körper pulsieren, wie etwas Lebendiges, wie etwas, das in seinem Körper feststeckte und das er nicht herausbekommen konnte. Er fühlte sich, als hätte er nicht länger die Kontrolle über sich selbst. Ein Teil von ihm vermisste den alten Sam, vermisste, wer er gewesen war. Doch ein anderer Teil von ihm wusste, er würde nie wieder diese Person sein.
Sam hörte ein fauchendes, klapperndes Geräusch und öffnete die Augen. Er lag mit dem Gesicht voran am Wüstenboden, und als er hochblickte, sah er eine Klapperschlange ihn nur wenige Zentimeter entfernt anzischen. Die Augen der Klapperschlange blickten direkt in Sams, wie im Gespräch mit einem Freund, eine ähnliche Energie verspürend. Er konnte spüren, dass die Rage der Schlange seiner eigenen ähnlich war—und dass sie kurz davor stand, anzugreifen.
Doch Sam fürchtete sich nicht. Im Gegenteil—er fühlte sich von einer Rage erfüllt, die derer der Schlange nicht nur gleich war, sondern größer. Und dazu passende Reflexe.
In dem Sekundenbruchteil, in dem die Schlange sich bereitmachte, zuzuschnappen, kam Sam ihr zuvor: er streckte seine Hand aus, packte die Schlange in der Luft am Hals und hielt sie nur zwei Zentimeter von seinem Gesicht entfernt so fest, dass sie ihn nicht beißen konnte. Sam hielt die Augen der Schlange auf seiner Augenhöhe, starrte sie so nahe an, dass er ihren Atem riechen konnte, ihre langen Giftzähne nur zwei Zentimeter entfernt, danach lechzend, in Sams Hals zu fahren.
Doch Sam überwältigte sie. Er drückte fester und fester zu und quetschte ihr langsam das Leben aus. Sie erschlaffte in seiner Hand, zu Tode erdrückt.
Er holte aus und schleuderte sie über den Wüstenboden.
Sam sprang auf die Füße und nahm seine Umgebung in sich auf. Um ihn herum war Staub und Steine—ein endloses Stück Wüste. Er drehte sich herum und bemerkte zwei Dinge: das erste war eine Gruppe kleiner Kinder, in Lumpen gekleidet, die neugierig zu ihm hochblickten. Als er zu ihnen herumwirbelte, stoben sie auseinander, eilten davon, als hätten sie ein wilden Tier dabei beobachtet, wie es aus dem Grab stieg. Sam spürte Kyles Wut durch ihn strömen, und ihm war danach, sie alle zu töten.
Doch das Zweite, was ihm auffiel, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Stadtmauer. Eine enorme Steinmauer, die sich über hundert Meter in die Lüfte erhob und sich in die Ewigkeit erstreckte. In dem Moment erkannte Sam: er war in den Vororten einer uralten Stadt aufgewacht. Vor ihm stand ein riesiges gewölbtes Tor, unter dem dutzende Menschen hinein und heraus strömten, in primitive Kleidung gehüllt. Sie wirkten, als befänden sie sich im römischen Zeitalter, in schlichte Roben oder Tuniken gekleidet. Auch Vieh strömte hinein und hinaus, und Sam konnte schon von hier die Hitze und den Lärm der Menge hinter den Mauern spüren.
Sam machte ein paar Schritte auf das Tor zu, und dabei stoben die Kinder auseinander, als würden sie vor einem Monster davonlaufen. Er fragte sich, wie furchteinflößend er aussah. Doch es war ihm eigentlich egal. Er verspürte den Drang, diese Stadt zu betreten und herauszufinden, warum er hier gelandet war. Doch anders als der alte Sam verspürte er keinen Drang, sie zu erforschen: vielmehr verspürte er den Drang, sie zu zerstören. Diese Stadt in Stücke zu hauen.
Ein Teil von ihm versuchte, es abzuschütteln, den alten Sam zurückzubringen. Er zwang sich dazu, an etwas zu denken, das ihn zurückbringen könnte. Er zwang sich dazu, an seine Schwester Caitlin zu denken. Doch