Sie gingen auf den Brunnen zu. Caleb drehte an der rostigen Kurbel, und langsam zog das verwitterte Seil einen Eimer Wasser hoch.
Caitlin fasste hinein, nahm das kalte Wasser mit hohlen Händen auf und spritzte es sich ins Gesicht. Es fühlte sich in der Hitze so erfrischend an. Sie bespritzte ihr Gesicht erneut, dann ihr langes Haar, und kämmte es mit den Fingern. Es war staubig und fettig, und das kalte Wasser fühlte sich himmlisch an. Sie würde alles für eine Dusche geben. Dann beugte sie sich vor, nahm noch mehr Wasser mit den Händen auf und trank es. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und es war genau, was sie brauchte. Caleb tat es ihr nach.
Schließlich lehnten sich beide an den Brunnen und betrachteten den Platz. Es schien keine besonderen Gebäude zu geben, keine besonderen Kennzeichnungen oder Hinweise darauf, wohin sie gehen sollten.
„Also wohin jetzt?“, fragte sie schließlich.
Caleb blickte herum, blinzelte ins Sonnenlicht und hielt sich die Hand vor die Augen. Er wirkte genauso ratlos wie sie.
„Ich weiß es nicht“, sagte er trocken. „Ich bin überfragt.“
„An anderen Zeiten und Orten“, fuhr er fort, „schien es, als wären unsere Hinweise stets in Klostern oder Kirchen zu finden gewesen. Aber in dieser Zeitperiode gibt es keine Kirche. Es gibt kein Christentum. Es gibt keine Christen. Erst nach Jesus' Tod gründeten die Leute eine Religion nach ihm. In dieser Zeitperiode gibt es nur einen Glauben. Jesus' Glauben: Das Judentum. Immerhin war Jesus jüdisch.“
Caitlin versuchte, das alles zu verarbeiten. Es war alles so komplex. Wenn Jesus Jude war, überlegte sie, hieß das, er würde zum Beten in eine Synagoge gehen. Plötzlich hatte sie einen Einfall.
„Dann ist vielleicht der beste Ort für die Suche der Ort, an dem Jesus betete. Vielleicht sollten wir nach einer Synagoge suchen.“
„Ich glaube, du hast recht“, sagte Caleb. „Immerhin war die einzige andere ausgeübte Religion zu jener Zeit, wenn man es überhaupt so nennen kann, das Heidentum—die Anbetung von Götzenbildern. Und ich bin sicher, dass Jesus nicht in einem heidnischen Tempel beten würde.“
Caitlin blickte sich erneut in der Stadt um, kniff die Augen zusammen und suchte nach einem Gebäude, das einer Synagoge ähneln könnte. Doch sie fand keines. Es waren alles schlichte Wohnstätten.
„Ich sehe nichts“, sagte sie. „Alle Gebäude sehen für mich gleich aus. Es sind nichts als kleine Häuser.“
„Ich auch nicht“, sagte Caleb.
Es folgte eine lange Stille, während Caitlin versuchte, alles zu verarbeiten. In ihrem Kopf rasten die Möglichkeiten.
„Meinst du, dass mein Vater und das Schild irgendwie mit all dem hier in Verbindung stehen?“, fragte Caitlin. „Meinst du, dass es mich zu meinem Vater führen wird, wenn wir dahin gehen, wo Jesus war?“
Caleb kniff die Augen zusammen und schien lange Zeit nachzudenken.
„Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Aber es ist eindeutig, dass dein Vater ein äußerst großes Geheimnis hütet. Ein Geheimnis nicht nur für die Art der Vampire, sondern für die gesamte Menschheit. Ein Schild, oder eine Waffe, die die Natur der gesamten Menschheit ändern wird, für alle Zeit. Es muss äußerst mächtig sein. Und es scheint mir, wenn irgendjemand dazu gedacht war, uns zu helfen, zu deinem Vater zu finden, dann würde dies jemand äußerst Mächtiger sein. Wie Jesus. Für mich würde das Sinn ergeben. Vielleicht müssen wir, um den einen zu finden, den anderen finden. Immerhin ist es dein Kreuz, das uns so viele der Schlüssel offenbart hat, die uns hierher gebracht haben. Und beinahe alle unsere Hinweise haben wir in Kirchen und Klöstern gefunden.“
Caitlin versuchte, alles zu erfassen. War es möglich, dass ihr Vater Jesus kannte? War er einer seiner Jünger? Der Gedanke daran war atemberaubend, und die geheimnisvolle Aura um ihn wurde immer tiefer.
Sie saß am Brunnen und blickte sich ratlos in dem schläfrigen Dörfchen um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie überhaupt zu suchen anfangen sollte. Überhaupt nichts stach besonders hervor. Und noch dazu wollte sie immer dringender Scarlet finden. Ja, sie wollte ihren Vater mehr als je zuvor finden; sie spürte die vier Schlüssel praktisch in ihrer Tasche brennen. Doch sie konnte keine offensichtliche Stelle erkennen, um sie einzusetzen—und es war schwer, sich auf ihn zu konzentrieren, solange sich ihre Gedanken um Scarlet drehten. Der Gedanke daran, dass sie ganz alleine da draußen war, zerriss sie in Stücke. Wer wusste schon, ob sie überhaupt in Sicherheit war?
Doch dann wiederum hatte sie auch keine Ahnung, wo sie nach Scarlet suchen sollte. Sie verspürte eine zunehmende Hoffnungslosigkeit.
Plötzlich erschien ein Schafhirte im Tor und schritt langsam auf den Dorfplatz hinaus, gefolgt von seiner Schafherde. Er trug eine lange, weiße Robe mit einer Kapuze, die seinen Kopf vor der Sonne schützte, und ging auf sie zu, einen Stab in der Hand. Zuerst dachte Caitlin, dass er direkt auf sie zu kam. Doch dann erkannte sie: der Brunnen. Er war einfach nur auf etwas zu trinken aus, und sie waren im Weg.
Als er hereinkam, scharten sich die Schafe um ihn herum, erfüllten den Dorfplatz, alle auf den Brunnen zu. Sie mussten gewusst haben, dass es Tränkzeit war. In wenigen Augenblicken fanden sich Caitlin und Caleb inmitten der Herde wieder, und die zarten Tiere schubsten sie zur Seite, damit sie zum Wasser gelangen konnten. Ihr ungeduldiges Blöken erfüllte die Luft, während sie darauf warteten, dass ihr Hirte sie versorgte.
Caitlin und Caleb machten Platz, als der Hirte auf den Brunnen herantrat, die rostige Kurbel drehte und langsam den Eimer heraufholte. Als er sich daranmachte, ihn herauszuheben, ließ er die Kapuze fallen.
Caitlin war überrascht darüber, wie jung er war. Er hatte dichtes blondes Haar, einen blonden Bart und hellblaue Augen. Er lächelte, und sie konnte die Sonnenfalten auf seinem Gesicht sehen, um seine Augen herum, und konnte die Wärme und Güte von ihm ausstrahlen spüren.
Er nahm den übervollen Eimer, und trotz des Schweißes auf seiner Stirn, trotz der Tatsache, dass er durstig wirkte, drehte er sich herum und goss den ersten Krug Wasser in den Trog am Fuß des Brunnens. Die Schafe drängten sich heran, blökend und einander aus dem Weg schubsend, während sie tranken.
Caitlin überkam das seltsamste Gefühl, dass dieser Mann vielleicht etwas wusste, dass er vielleicht aus gutem Grund ihren Weg gekreuzt hatte. Wenn Jesus in dieser Zeit lebte, überlegte sie, vielleicht hatte dieser Mann dann von ihm gehört?
Caitlin verspürte einen Schub von Nervosität, als sie sich räusperte.
„Entschuldigung?“, fragte sie.
Der Mann drehte sich zu ihr herum und blickte sie an, und sie konnte die Intensität seiner Augen spüren.
„Wir sind auf der Suche nach jemandem. Ich frage mich, ob Sie vielleicht wissen, ob er hier lebt.“
Der Mann kniff die Augen zusammen, und Caitlin bekam dabei das Gefühl, als würde er direkt durch sie sehen. Es war unheimlich.
„Er lebt“, antwortete der Mann, als würde er ihre Gedanken lesen. „Aber er ist nicht länger an diesem Ort.“
Caitlin konnte es kaum glauben. Es war also wahr.
„Wohin ist er gegangen?“, fragte Caleb. Caitlin hörte die Eindringlichkeit in seiner Stimme und konnte spüren, wie dringend er es wissen wollte.
Der Mann richtete seinen Blick auf Caleb.
„Na, nach Galiläa natürlich“, erwiderte der Mann, als wäre das offensichtlich. „Ans Meer.“
Caleb kniff die Augen zusammen.
„Kapernaum?“, fragte Caleb vorsichtig.
Der Mann nickte zur Antwort.
Calebs Augen weiteten sich verstehend.
„Viele Anhänger sind auf dem Pfad“, sagte der Mann kryptisch. „Suchet, so werdet ihr finden.“
Der Hirte