II. Widerrufsjoker im Verbraucherdarlehensrecht und bei Immobiliar-Kreditverträgen
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1. In Deutschland galt schon mit Inkrafttreten des OLG-Vertretungsänderungsgesetzes zum 1. August 20025 die Pflicht, den Verbraucher über das ihm zustehende Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehen nach § 495 BGB zu belehren. Ein Erlöschen des Widerrufsrechts sechs Monate nach Abschluss des Vertrags, wie es mit der Schuldrechtsreform zum 1.1.2002 in § 355 Abs. 3 Satz 1 BGB (in der Fassung vom 1.1.2002 bis 31.7.2002)6 geregelt worden war, sah die Neuregelung infolge der Heininger Entscheidung des EuGH vom 13.12.20017 nicht mehr vor. Das Widerrufsrecht erlosch nicht, wenn der Verbraucher über sein Widerrufsrecht nicht ordnungsgemäß belehrt worden war (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB i.d.F. vom 1.8.2002 bis 7.12.2004).8 Außerdem sah das neue Gesetz vor, dass der Verbraucher nunmehr auch dann ein Widerrufsrecht haben sollte, wenn er einen grundpfandrechtlich besicherten Darlehensvertrag abschloss, der zu den für derartige Darlehen üblichen Bedingungen gewährt wurde (sog. Immobiliardarlehensverträge, § 492 Abs. 1a BGB i.d.F. vom 1.8.2002 bis 7.12.2004). Bis zu diesem Zeitpunkt stand dem Verbraucherdarlehensnehmer bei diesen Darlehen kein Widerrufsrecht zu, und zwar auch dann nicht, wenn der Vertrag in einer Haustürsituation angebahnt oder abgeschlossen worden war. Mit diesen Änderungen schuf der Gesetzgeber ein quasi ewiges Widerrufsrecht, sofern die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war. Denn noch Jahre nach vollständiger Abwicklung eines Vertrages konnte der Verbraucher diesen widerrufen. Die Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie (2008/48/EG) zum 11.6.2010 in das deutsche Recht9 brachte an dieser Stelle keine Änderung. Seit dem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechte-Richtlinie (2011/83/EU) kann das Widerrufsrecht des Verbrauchers zwar grundsätzlich erlöschen (§ 355 Abs. 3 Satz 2 BGB), dieses gilt jedoch ausdrücklich nicht für Verträge für Finanzdienstleistungen (§ 355 Abs. 3 Satz 3 BGB).
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2. Damit wurde die Grundlage für den sogenannten Widerrufsjoker geschaffen, der vor allem Kreditinstitute im Zusammenhang mit Immobiliardarlehensverträgen trifft. So steht dem Darlehensnehmer für die im Zeitraum zwischen November 2002 bis März 2016 abgeschlossenen Verbraucherdarlehensverträge grundsätzlich ein unbefristetes Widerrufsrecht zu, wenn ihm eine fehlerhafte Widerrufsbelehrung bzw. Widerrufsinformation erteilt wurde. Dieses Recht galt für alle Verbraucherdarlehen nach § 495 BGB in Verbindung mit § 355 BGB. Bis zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie (2014/17/EU) zum 21.3.201610 galt, dass bei allen Verbraucherdarlehen bei einer fehlerhaft erteilten Widerrufsbelehrung oder Widerrufsinformation (seit 11.6.2010) dem Verbraucher ein unbefristetes Widerrufsrecht zustand. Schließlich wurde mit dem Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie ein Erlöschen des Widerrufsrechts bei Immobiliardarlehensverträgen eingeführt, soweit diese Verträge zwischen dem 1.9.2002 und dem 10.6.2010 geschlossen worden waren. Das Widerrufsrecht erlosch endgültig spätestens drei Monate nach dem 21.3.2016, soweit es sich bei dem Vertrag nicht gleichzeitig um ein Haustürgeschäft handelt (Art. 229 § 38 Abs. 3 EGBGB). Hatte der Verbraucher seinen Widerruf nicht bis zum Ablauf des 21.6.2016 erklärt, wobei es auf die rechtzeitige Absendung bis zum Ablauf des 21.3.2016 ankam,11 war es endgültig erloschen.
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3. Darüber hinaus führte der Gesetzgeber für Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge (§ 491 Abs. 3 BGB) eine Befristung des Widerrufsrechts ein (§ 356b Abs. 2 Satz 4 BGB). Danach erlischt das Widerrufsrecht nach Ablauf eines Jahres und 14 Tage seit Abschluss des Darlehensvertrags selbst dann, wenn in dem Darlehensvertrag keine ordnungsgemäße Widerrufsinformation enthalten ist. Dem Verbraucher steht somit zwar ein verlängertes, aber kein ewiges Widerrufsrecht zu.
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Damit endete mit Ablauf des 21.3.2016 prinzipiell das ewige Widerrufsrecht für Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge und damit der Widerrufsjoker. Diese Änderungen gelten jedoch nur für Immobiliardarlehensverträge, die zwischen dem 1.9.2002 und 10.6.2010 geschlossen worden waren sowie für Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge, die seit dem 21.3.2016 geschlossen wurden. Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge können weiterhin zeitlich unbegrenzt widerrufen werden, wenn die Widerrufsbelehrung bzw. -information fehlerhaft war. Auch für Immobiliardarlehensverträge, die in dem Zeitraum zwischen 10.6.2010 und 21.3.2016 geschlossen wurden, besteht bei einer fehlerhaft erteilten Widerrufsinformation ein unbefristetes Widerrufsrecht.
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4. Auslöser für den Widerrufsjoker
Als der Gesetzgeber sich in Folge der EuGH – Entscheidung in Sachen Heininger – entschied, ein einheitliches Widerrufsrecht für Verbraucherdarlehen zu schaffen und dieses nicht situationsabhängig einzuräumen, fühlte er sich zur Sicherung des Rechtsfriedens aufgefordert, den Kreditinstituten eine Muster-Widerrufsbelehrung an die Hand zu geben, die diese zur Belehrung der Verbraucher verwenden konnten. Der Inhalt dieser Widerrufsbelehrung war von Anfang an umstritten, insbesondere wurde die Ordnungsmäßigkeit der in der Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 BGB-Informationspflichten-Verordnung (BGB-InfoV) veröffentlichten Widerrufsbelehrung in Frage gestellt und teilweise in der rechtswissenschaftlichen Literatur von der Verwendung der veröffentlichten Muster-Widerrufsbelehrungen abgeraten.12 Insbesondere die in den ersten beiden Muster-Widerrufsbelehrungen verwendete Formulierung „frühestens mit Erhalt dieser Belehrung...“ ohne den Beginn der Widerrufsfrist weiter zu konkretisieren, führte zu kontrovers geführten Diskussionen. In der Kreditwirtschaft wurden daher in den Muster-Widerrufsbelehrungen Anpassungen vorgenommen oder eigene Muster entwickelt, um das Risiko einer unwirksamen Widerrufsbelehrung möglichst zu vermeiden. Erst 2012 entschied der BGH,13 dass sich bei einer wortgleichen Verwendung der Muster-Widerrufsbelehrungen der Verwender auf die Schutzwirkung des § 14 Abs. 1 InfoV berufen kann. Bei Abweichungen vom Mustertext, die durch eine inhaltliche Bearbeitung der Texte herbeigeführt wurden, besteht nach der Rechtsprechung dieses Privileg jedoch nicht mehr. Nur, wenn die Textbearbeitung auf einem offenkundigen Schreibfehler beruhe oder die Verständlichkeit erhöhe, aber keine inhaltliche Bearbeitung des Mustertextes erfolgt sei, kann sich der Verwender auf die Gesetzlichkeitsfiktion weiterhin berufen.14
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Im Jahr 2009 entschied der BGH,15 dass eine Belehrung über den Beginn der Widerrufsfrist nur unzureichend informiere, wenn diese von einem unbefangenen Leser dahingehend verstanden werden kann, dass die Widerrufsfrist unabhängig von der Vertragserklärung des Verbrauchers durch den bloßen Zugang des von einer Widerrufsbelehrung begleiteten Vertragsangebots des Vertragspartners in Gang gesetzt werden kann. Mit dem Deutlichkeitsgebot des § 355 Abs. 2 Satz 1 BGB sei dies nicht zu vereinbaren. Diese Entscheidung fand lediglich in der Fachliteratur16 Aufmerksamkeit, ansonsten hatte sie keine weitreichenden oder spürbaren Folgen. Dies änderte sich erst, als sich zu Beginn der 2010er Jahre das niedrige Zinsniveau bei Immobiliardarlehensverträgen verfestigte und Darlehensnehmer über Verbraucherschutzverbände auf die Möglichkeit des „Widerrufsjokers“ aufmerksam wurden. Nach den damaligen Veröffentlichungen der Verbraucherschutzverbände17 waren Angaben gemäß bis zu 70 % der von der Kreditwirtschaft bei Immobiliardarlehensverträgen verwendeten Widerrufsbelehrungen fehlerhaft. Den Darlehensnehmern stünde somit ein jederzeitiges Widerrufsrecht zu und ermögliche ihnen das bestehende Darlehen in zinsgünstigere Darlehen umzuschulden, ohne eine Vorfälligkeitsentschädigung zahlen zu müssen. Die Berichterstattungen in den Medien führten zu vermehrten Widerrufen. Damit war der Widerrufsjoker geboren, für den der Gesetzgeber bereits im Jahr 2002 die Grundlage gelegt hatte. Gerade die Kreditinstitute versuchten, sich gegen den Widerrufsjoker zu wehren und führten entsprechende Klageverfahren durch. In den Folgejahren führte der Widerrufsjoker