(b) Chefarzt – Stationsarzt
284
Beispiel:
Bei den Aufnahmeuntersuchungen im Krankenhaus durch die Stationsärzte wurde die Mehrlingschwangerschaft der Patientin nicht bemerkt. Nach der Geburt eines gesunden Sohnes erhielt sie auf Anweisung eines Stationsarztes Methergin injiziert, das die Sauerstoffversorgung des noch im Mutterleib befindlichen zweiten Kindes beeinträchtigte, so dass dieses dadurch schwere, nicht mehr behebbare Hirnschäden erlitt.
Zur Frage des Schuldvorwurfs gegenüber dem Leitenden Arzt der Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe führte der BGH aus, ihm könne ein Verschulden nur dann angelastet werden, wenn er entweder eigene Untersuchungen unsorgfältig ausgeführt oder eine Untersuchung, die zur Feststellung der Mehrlingschwangerschaft geführt hätte, pflichtwidrig unterlassen oder aber die notwendige Anleitung und Überwachung des Stationsarztes nicht vorgenommen hätte. Der Chefarzt hatte jedoch eine „sorgfältige Tastuntersuchung und eine vaginale Untersuchung“ durchgeführt und ferner darauf geachtet, dass zusätzlich Ultraschalluntersuchungen erfolgten. Es sei grundsätzlich nicht Aufgabe des Leitenden Arztes, bereits vorgenommene Untersuchungen stets durch eigene zu überprüfen. Denn sonst würde der Grundsatz der vertikalen Arbeitsteilung aufgegeben. Etwas anderes könne gelten, wenn der Leitende Arzt Anhaltspunkte dafür habe, dass die Untersuchungen unsorgfältig oder nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt worden seien.[241] Dafür bestanden im vorliegenden Fall jedoch keine Anhaltspunkte.
Der Chefarzt war auch berechtigt, die weitere Betreuung der Patientin dem Stationsarzt zu übertragen, da er davon ausgehen durfte, dass eine „unproblematische Einlingsgeburt aus Schädellage bevorstehe“. Die selbstständige Leitung einer solchen Geburt, die somit gerade keinen Problemfall darstellte und sich bis zur fehlerhaften Injektion von Methergin auch nicht zu einem solchen entwickelte, durfte er dem Stationsarzt überlassen, den er für „sehr zuverlässig“ hielt und der bereits „130 normale Geburten selbstständig betreut und beendet hatte, ohne dass es zu Komplikationen gekommen wäre“, der also kein reiner Berufsanfänger mehr war. Dass dieser Stationsarzt die Injektion von Methergin anordnen würde, ohne sich zuvor zu vergewissern, ob die Fruchthöhle leer war, konnte der Chefarzt nicht vorhersehen. Die hierzu erforderlichen Feststellungen waren durch Abtasten des Mutterleibes leicht zu treffen, ihre Notwendigkeit drängte sich zudem dadurch auf, dass die Bauchdecke der Patientin nach der erfolgten Geburt des Kindes weiterhin gewölbt war.
Da der Stationsarzt durch den Chefarzt über die Wirkung des Mittels Methergin informiert war und Letzterer die Anweisung erteilt hatte, Methergin nur bei absoluter Gewissheit einer leeren Fruchthöhle zu injizieren, musste er ein derartiges Fehlverhalten seines für die Geburtsüberwachung zuständigen Mitarbeiters nicht in Rechnung stellen[242].
(c) Oberarzt – Assistenzarzt
285
Beispiel:
Im Rahmen eines gegen zwei Anästhesisten geführten Verfahrens wegen fahrlässiger Tötung war eine Patientin entweder infolge einer Fehlintubation oder infolge eines nicht mehr beherrschbaren Bronchospasmus gestorben, was trotz Einschaltung von fünf hochkompetenten Sachverständigen letztlich nicht exakt geklärt werden konnte. Bezüglich der von ihm als Anästhesisten zu treffenden Maßnahmen berief sich der Assistenzarzt auf den „überlegenen Sachverstand des von ihm zugezogenen Oberarztes“. Dennoch sah das Landgericht Marburg auch den Assistenzarzt als eigenverantwortlich für die Nichtausschöpfung aller Überprüfungsmöglichkeiten an und führte aus:
„Zum einen hatte er den Oberarzt jedenfalls nicht vollständig über die Schwierigkeiten bei der Intubation informiert, da er diesen nicht davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass er jeweils den Beatmungsschlauch ohne Einstellung der Stimmritze der Patientin eingeführt hatte. Daneben greifen die Grundsätze der sog. vertikalen Verantwortlichkeit der an einer Narkose beteiligten Ärzte zugunsten des Assistenzarztes hier jedenfalls nicht uneingeschränkt ein. Denn der Oberarzt war nicht der für die Überwachung des Assistenzarztes ‚zuständige Oberarzt‚. Verantwortlich für ihn war insoweit die Oberärztin… und, dieser übergeordnet, der Leiter der Abteilung für Anästhesie. Der Oberarzt befand sich dagegen nur zufällig im benachbarten OP-Saal und hatte sich unter den gegebenen Bedingungen bereit gefunden, den Assistenzarzt auf dessen Bitte hin zu beraten. Seine kurze Intervention im Einleitungsraum befreit deshalb den Assistenzarzt, dem diese Umstände bekannt waren, nicht von der ihm als für den OP-Saal … eingeteilten Anästhesisten obliegenden originären Verantwortlichkeit für die von ihm dort zu betreuende Narkose der Patientin, auch wenn den Oberarzt dadurch, dass er sich, ohne in der konkreten Situation dazu verpflichtet zu sein, in der dargestellten Weise in die Durchführung der Narkose einschaltete, eine Mitverantwortung an der Unterlassung der gebotenen Überprüfungsmöglichkeiten trifft“[243].
Die Differenzierung zwischen „formeller“ Zuständigkeit des Oberarztes und einer lediglich „materiellen“ Verantwortlichkeit „kraft Übernahme“ erachten wir nicht als tragfähig. Wenn ein Oberarzt einer Klinik, gleichgültig ob der gerade Dienst habende oder sonst erreichbare, von einem Assistenzarzt gerufen wird, weil dieser überfordert ist oder sich überfordert fühlt, geht kraft seines Erfahrungs- und Wissenvorsprungs sowie kraft seiner überlegenen Stellung die Verantwortlichkeit auf den Oberarzt über. Der in der Ausbildung befindliche Arzt darf sich, „sofern von ihm aufgrund seines Ausbildungsstandes nicht bessere Erkenntnisse und Einsichten zu erwarten sind, auf die Beurteilung des übergeordneten Facharztes verlassen“[244].
(d) Leitender Arzt – Assistenzarzt
286
Auf der anderen Seite wird von den Gerichten ein Auswahl- bzw. Überwachungsverschulden des Leitenden Arztes und damit dessen Sorgfaltswidrigkeit bejaht, wenn er einen überbeanspruchten Krankenhausarzt zum nächtlichen Bereitschaftsdienst einteilt bzw. dagegen nicht einschreitet und diesem dann ein Behandlungsfehler mit tödlicher Folge unterläuft.
Beispiel:
„Nach 19-stündiger ununterbrochener Arbeitsleistung sind selbst bei einem überdurchschnittlich leistungsfähigen Menschen erhebliche Ermüdungserscheinungen zu erwarten, die sich sowohl in einem Nachlassen der Konzentration und der Verfügbarkeit des an sich vorhandenen fachlichen und sonstigen Könnens als auch in unterschwelligen Abwehrreaktionen äußern können […] Aus diesen Gründen ist der Senat der Auffassung, dass – sofern nicht ein Notfall vorliegt – die Einteilung eines am selben Tag bereits tagsüber voll tätigen Krankenhausarztes zum nächtlichen Bereitschaftsdienst seitens des für diese Einteilung Verantwortlichen eine Sorgfaltspflichtverletzung gegenüber den betroffenen Patienten darstellt, die im Falle eines übermüdungsbedingten Versagens des Bereitschaftsarztes und einer sich daraus bei einem Patienten ergebenden Todes- oder Verletzungsfolge durchaus die Annahme rechtfertigt, der für die Einteilung Verantwortliche habe sich hinsichtlich des entsprechenden Fahrlässigkeitsdelikts schuldig gemacht.“[245]
(e) Chefarzt/Oberarzt – nachgeordnete Ärzte
287
Der BGH hat diese Kernsätze in seinem Urteil vom 29.10.1985[246] bestätigt:
„Der Schutz des Patienten erfordert es, dafür Sorge zu tragen, dass keine durch vorangegangenen Nachtdienst übermüdeten Ärzte zum Operationsdienst eingeteilt werden… Entgegen der Ansicht der Revision kann sich der Krankenhausträger nicht mit Erfolg darauf berufen, es sei allein Sache des die Operation übernehmenden Arztes, darüber zu entscheiden,