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Die Anforderungen an die sekundären Sorgfaltspflichten des Arztes dürfen deshalb nicht überspitzt werden, wenn die Arbeitsteilung in der Praxis funktionieren und nicht ad absurdum geführt werden soll. Konkret bedeutet dies: Der Arzt haftet „für die sorgfältige Auswahl des Mitarbeiters, also für die Prüfung seiner fachlichen und persönlichen Qualifikation, für die Erteilung der erforderlichen generellen und speziellen Weisungen und für die ordnungsgemäße Überwachung“[273]. Ist eine Hilfsperson „als für die in Frage kommenden Maßnahmen so geschult, erprobt, erfahren und zuverlässig“ anzusehen, „dass ein von ihr begangener Fehler außerhalb des Rahmens gewöhnlicher Erfahrung und der besonderen Wissensmöglichkeiten des Arztes“ liegt,[274] scheidet dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit aus. Der Arzt genügt seiner Überwachungspflicht, wenn er bei Assistenzpersonen, die sich „in langer Zusammenarbeit als fachlich qualifiziert und zuverlässig erwiesen“ haben, regelmäßig „stichprobenartige Überprüfungen“ vornimmt.[275] Sobald sich aber eindeutige Tendenzen zu „Schludrigkeit“ und zum „Schlendrian“ zeigen[276] oder andere Umstände „das Vertrauen in den ausgebildeten Mitarbeiter“ zu erschüttern geeignet sind, muss der Arzt handeln, das heißt, die Überwachung verstärken, entsprechende Anweisungen und Instruktionen erteilen, evtl. Kompetenzen einschränken, Fortbildungskurse einrichten, etc., um die Mängel zu beseitigen. Insoweit ist der Vertrauensgrundsatz nicht mehr gerechtfertigt und der Bereich der sekundären Sorgfaltspflichten des Arztes entsprechend erweitert. Dies gilt auch für gesonderte Hinweise bei gefährdeten Patienten, z.B. zur Beobachtung eines Infusionssystems[277] oder eines Liegegeschwürs (Dekubitus)[278].
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In welcher Weise die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes von der Qualifikation, Schulung, Erfahrung und Zuverlässigkeit des nichtärztlichen Personals abhängt, zeigt ein Blick in die Judikatur:
(a) Arzt – Hebamme
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Da die während des gesamten Geburtsvorgangs anwesende Hebamme die pathologischen Muster des CTG (Kardiotokogramm, Wehenschreiber) mit Spätdecelerationen nicht bemerkte und dadurch zu spät um ärztliche Hilfe rief, erlitt das Kind bei der Geburt infolge mangelnder Sauerstoffversorgung eine Hirnfunktionsstörung, die zu einer schweren Athetose führte. Im Rahmen der umfangreichen Beweisaufnahme ergab sich, dass die Hebamme bei allen Ärzten der Abteilung und ihren Kolleginnen als zuverlässig und qualifiziert galt, von anderen Patientinnen als „gute, erfahrene und beliebte Hebamme“ beschrieben wurde, die über eine mehr als 20-jährige Berufspraxis verfügte, und der Chefarzt in regelmäßigen Besprechungen sowie durch Hinweise im Berufsalltag die am Krankenhaus tätigen Hebammen eingehend über die Beurteilung pathologischer Kurvenverläufe des CTG-Geräts instruiert hatte. Auch die regelmäßigen amtsärztlichen Überprüfungen der Hebamme in fachlicher Hinsicht hatten zu keinerlei Beanstandungen geführt.
Angesichts dieser Umstände durfte der Chefarzt der gynäkologischen Abteilung auf die persönliche Qualifikation und Gewissenhaftigkeit der Hebamme vertrauen. Ein Aufsichts- und Überwachungsverschulden kam nicht in Betracht, so dass er zu Recht von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen wurde.[279]
Allgemein ist zur Abgrenzung der Verantwortlichkeiten von Arzt und Hebamme auf folgende Grundsätze zu verweisen:[280]
1. | Die Begleitung einer Normalgeburt entspricht im Ausgangspunkt der originären Fachkompetenz einer Hebamme[281]. Erst der Eintritt von Komplikationen, z.B. einer Schulterdystokie oder eines kindlichen Herztonabfalls, erfordert das Eingreifen des Arztes[282]. Die Aufnahmeuntersuchung zur Entbindung im Krankenhaus darf – entgegen der Ansicht des OLG Stuttgart – der Hebamme überlassen bzw. übertragen werden.[283] Von dem Zeitpunkt an, in dem der Arzt in der Klinik die Leitung der Geburt übernimmt, sei es wegen einer Komplikation oder aus anderen Gründen, ist die Hebamme seine Gehilfin[284]. Sie bleibt aber strafrechtlich verantwortlich, wenn sie z.B. die Gefahrenlage für Mutter und Kind anhand des CTG erkannt, hiervon aber den Geburtshelfer nicht unterrichtet hat.[285] |
2. | Dementsprechend ist die Hebamme bei Normalgeburten befugt, bestimmte diagnostische und therapeutische Maßnahmen vorzunehmen, die im Einzelnen in den jeweiligen Dienstordnungen der Bundesländer niedergelegt sind. |
3. | Sobald Regelwidrigkeiten und Zeichen eines pathologischen Geburtsverlaufs auftreten, muss die Hebamme den Arzt hinzuziehen, dem – von Ausnahmesituationen abgesehen (Unerreichbarkeit rechtzeitiger Hilfe) – allein die Behandlung regelwidriger Vorgänge bei Schwangeren und Gebärenden vorbehalten ist.[286] Deshalb endet die Kompetenz der Hebamme z.B. beim Auftreten einer Schulterdystokie. |
4. | Die Hebamme darf sich im Prinzip auf die Anordnungen des Arztes verlassen. Der Arzt, der die Hebamme zu einer spezifisch ärztlichen Verrichtung heranzieht und ihr Weisungen erteilt, ist dafür alleine verantwortlich[287]. Bei erkennbar unsachgemäßen Anweisungen des Arztes muss die Hebamme jedoch entsprechende Vorhalte machen[288]. |
5. | Die Hebamme hat neben dem Geburtshelfer die – eigene – Rechtspflicht, Atemtätigkeit und Herzfrequenz eines neugeborenen Kindes in den ersten 20 Minuten nach der Geburt ständig zu überwachen.[289] |
6. | Aus der originären Kompetenz der Hebamme für die Begleitung einer normalen Geburt folgt, dass der aufsichtsführende Arzt im Krankenhaus bei der Entbindung nicht ständig anwesend zu sein hat. Es genügt, dass er für eine stets ordnungsgemäße Durchführung der Geburtshilfe Sorge trägt und im Falle eintretender Komplikationen sofort zur Stelle ist[290]. Mit seinem Erscheinen und namentlich seiner Eingangsuntersuchung wird er der Hebamme gegenüber weisungsbefugt.[291] |
(b) Arzt – Krankenpflegekräfte
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1. |
Bei der Operation eines Kleinkindes erfolgte versehentlich eine Infusion von 150 ml 8,4 % Natriumbicarbonat, so dass das Kind wenig später starb. Der zuständige Anästhesist hatte die richtige Infusion angeordnet, die auch zunächst angeschlossen war, doch hatte die examinierte Narkoseschwester beim Auswechseln der Infusionsflasche anstelle der verordneten „Päd-Lösung“ irrtümlich aufgrund der äußeren Ähnlichkeit der Flaschen die Natriumbicarbonat-Lösung angehängt. Die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den angeklagten Narkosearzt wurde mit Recht abgelehnt, da ihm die Narkoseschwester als gut ausgebildete, langjährig berufserfahrene und zuverlässige Fachkraft bekannt war. Da die Auswechslung einer Infusionsflasche eine einfache Tätigkeit sei, „die keinerlei ärztliche Kenntnisse voraussetzt und eine ausgebildete Narkoseschwester auch nicht überfordert“, dürfe der Arzt darauf vertrauen, „dass die Schwester die seiner Anordnung entsprechende Infusion anschließt“. Anderenfalls würde „jede Eigenverantwortung des ausgebildeten medizinischen Pflegepersonals“ in Frage gestellt. Etwas anderes gilt natürlich, wenn dem Arzt die Verwechslungsgefahr der beiden Infusionen aufgrund der äußeren Beschaffenheit
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