2.
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Der Chefarzt hatte seinen erfahrenen Stationsarzt beauftragt, einem schwer kranken Kind Kaliumchlorid intravenös zu spritzen. Der Stationsarzt übertrug diese Aufgabe an die langjährige Stationsschwester, eine Ordensfrau, die ihrerseits die Injektion an eine Lernschwester delegierte, zu deren Sicherheit allerdings in der Nähe, wenngleich in einem anderen Raum, blieb. Da die Lernschwester die Spritze falsch setzte – in den Infusionsschlauch statt in die Infusionsflasche – kollabierte das Kind sofort und konnte trotz Wiederbelebungsmaßnahmen nicht mehr gerettet werden.
Im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen wurden alle vier beteiligten Personen angeklagt und gegen sie auch die Hauptverhandlung eröffnet. Nach vier Verhandlungstagen erfolgte gegen den Chefarzt und den Stationsarzt ein Freispruch. Denn der Chefarzt habe die notwendigen Anordnungen gegeben und insbesondere darauf hingewiesen, dass Schwesternschülerinnen diese Art von Spritzen auf keinen Fall vornehmen dürfen, und der Stationsarzt war berechtigt, die Injektion auf eine qualifizierte Kraft weiterzudelegieren, deren Wissen und Erfahrung über jeden Zweifel erhaben war. Die Stationsschwester und die Lernschwester wurden dagegen schuldig gesprochen: Erstere, weil sie wusste, dass sie diese Aufgabe nicht an eine unerfahrene Schwesternschülerin zur selbstständigen Erledigung übertragen durfte, Letztere, weil ihr das Verbot der Durchführung solcher Injektionen aufgrund des Unterrichts in der Krankenpflegeschule bekannt war.[293]
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3.
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Ein Anästhesist darf darauf vertrauen, dass eine frisch operierte Patientin entsprechend seiner ausdrücklichen Weisung von der erfahrenen HNO-Schwester postoperativ in kurzen Zeitabständen von ca. 5 Minuten kontrolliert wird, wenn sie weiß, dass es postnarkotisch zu Atemdepressionen kommen kann und daher insoweit eine laufende Überwachung geboten ist. Voraussetzung ist allerdings, dass keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer weitergehenden Überwachung der Patientin vorliegen.[294]
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4.
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Verfügt der eingesetzte Pflegedienst nicht über die erforderliche Qualifikation und fehlen im Aufwachbereich die notwendigen apparativen Voraussetzungen für eine effektive Zwischenfalltherapie (kein EKG-Monitor, keine tragbaren Sauerstoffflaschen, keine Wandanschlüsse für Sauerstoff), darf ein verschiebbarer Eingriff (Korrektur einer fehlgebildeten Ohrmuschel bei einem Kind) nicht vorgenommen werden.[295]
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5.
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Zur Unzulässigkeit der Übertragung der postoperativen Überwachung auf eine „Azubi“ ohne Pulsoxymeter und EKG siehe oben Rn. 250.
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6.
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Die angeklagte Assistenzärztin, die in der Weiterbildung zur Fachärztin für Anästhesie stand, war als Narkoseärztin für die Operation eines 5 Monate alten Säuglings (zur Korrektur einer angeborenen Gaumenspalte) eingesetzt. Nach der Einleitung der Narkose verließen der aufsichtsführende Facharzt sowie in seiner Begleitung die Anästhesieschwester und ein Pfleger den Operationssaal, während die Angeklagte allein zur Überwachung des Kindes zurückblieb.
Der Narkoseverlauf war zunächst unauffällig. Nach etwa einer halben Stunde versuchte die Anästhesistin, den Perfusor, den sie nachgefüllt hatte, vergeblich wieder in Gang zu setzen. Da ein dreimaliges Durchspülen des venösen Zugangs mit Kochsalzlösung keinen Erfolg zeitigte und sie deshalb weiteres Kochsalz benötigte, griff sie nach einer Flasche, die aber Wasserstoffperoxid (ein Desinfektionsmittel) enthielt. Diese war auf ungeklärte Weise auf die Ablagefläche am Narkosewagen gelangt und von der Anästhesistin trotz korrekter Etikettierung irrig für eine Kochsalzflasche gehalten worden. Entweder die Angeklagte selbst oder auf ihre Anweisung hin ein Dritter nahm dann die Wasserstoffperoxid-Injektion über die Verweilkanüle in die Vene des Kindes vor, was zu einer dramatischen Verstopfung der Blutgefäße und einer schweren Lungenembolie mit Kreislaufstillstand führte. Infolgedessen erlitt das Kind schwerste irreversible Hirnschädigungen.
Das LG Frankfurt verurteilte die angeklagte Anästhesistin zu einer Freiheitsstrafe,[296] der BGH stellte das Verfahren jedoch infolge der langen Verfahrensdauer gem. § 153 Abs. 2 S. 1 StPO ein.[297] Der Schuldspruch des Landgerichts war damit begründet worden, dass die Frage, wer die Spritze aus der Wasserstoffperoxid-Flasche aufgezogen habe, unerheblich sei. Ein etwaiges Verschulden dritter Personen entbinde die Anästhesistin nicht „von ihrer eigenen Verantwortung“. Denn „zuständige Fachkräfte, auf die sie sich hätte verlassen können, waren nicht im Saal“. Falls die Angeklagte einer der Operationsschwestern oder dem Krankenpfleger (zur Ausbildung) das Aufziehen der Kochsalzlösung überlassen hätte, wäre sie verpflichtet gewesen, „selbst auf das Flaschenetikett zu sehen und sich so zu überzeugen, dass das richtige Medikament aufgezogen wurde“. Da sie dies nicht mit der gebotenen und zumutbaren Sorgfalt getan habe, sei sie für den Eintritt des schweren Narkoseschadens verantwortlich.
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7.
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Über einen weiteren rechtlich interessanten Fall vertikaler Arbeitsteilung berichtet Neumann:[298]
„Ein 80-jähriger Patient wurde 20 Minuten nach einer komplikationslos durchgeführten Leistenbruchoperation in die Aufwacheinheit verlegt, wo er nach weiteren 30 Minuten aus dem Bett fiel und sich dabei einen Trümmerbruch des Nasenbeines sowie eine mittelgradige Gehirnerschütterung zuzog. Im Zeitpunkt des Unfalls betreute ein Pfleger fünf Patienten einschließlich des Betroffenen in dem mit sechs Stellplätzen ausgelegten Aufwachraum. Der Pfleger erklärte, er habe den Sturz zwar beobachtet, aber nicht verhindern können, weil er wegen eines tobend aus der Narkose erwachenden anderen Patienten unabkömmlich gewesen sei.
Der Anästhesist machte demgegenüber geltend, der Krankenhausträger habe die Aufwacheinheit organisatorisch an die Intensivstation gekoppelt und überdies die Personalzuteilung im Pflegebereich in die Verantwortung der Pflegedienstleitung gelegt.
Der Pflegedienstleiter seinerseits hielt die von ihm getroffene Regelung für ausreichend, wonach die Stationsleitung der Intensiveinheit grundsätzlich eine Kraft für den Aufwachraum zur Verfügung zu stellen und lediglich im Bedarfsfall für Verstärkung zu sorgen hätte.
Die Stationsschwester schließlich wies darauf hin, dass ihr ein Bedarfsfall nicht gemeldet worden sei und sie ungeachtet dessen die Ausformulierung eines solchen Falles in der Dienstanweisung vermisse.
Das Verfahren endete mit der Auflage zur Zahlung eines Geldbetrages nach § 153a StPO gegen den Pflegedienstleiter wegen fahrlässiger Körperverletzung und mit einer Einstellung des Verfahrens gegen die Stationsschwester und den Anästhesisten gemäß § 170 Abs. 2 StPO. Der Chefarzt der Intensivabteilung konnte nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, weil er während des Ermittlungsverfahrens verstarb. Ihm wäre vorzuwerfen gewesen, dass er auf die administrative Umorganisation nicht ärztlich reagiert, insbesondere die Dienstanweisung nicht präzisiert hat. Zumindest hätte er personellen Engpässen durch eine Regelung über die Anbringung von Bettgittern oder die Verwendung von Fixationsgurten begegnen müssen“.
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8.
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Ebenso wie bei Rn. 300 ging es auch vor dem Amtsgericht Stade[299] um einen tödlichen Infusionszwischenfall.
Die Staatsanwaltschaft warf der zuständigen Stationsärztin vor, sich beim Anlegen der Infusion nicht von der Funktionstüchtigkeit des Infusionsgeräts überzeugt und deshalb zugelassen zu haben, dass mit einem defekten Infusionsgerät gearbeitet wurde. Außerdem habe sie den Infusionsvorgang in der Folgezeit nicht überwacht.
Zu Recht hat jedoch das Amtsgericht in Anwendung der von der Rechtsprechung, Rechtslehre und den zuständigen medizinischen Fachgesellschaften bzw. Verbänden herausgearbeiteten Grundsätze die Stationsärztin freigesprochen, weil sie auf die pflichtgemäße Durchführung der Infusionen durch die damit betraute Krankenschwester und die laufende Wartung und Pflege des Infusionsgerätes durch den Krankenhausträger vertrauen durfte. Die Vornahme dieser Maßnahmen hatte die Verwaltung jedoch verabsäumt.
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