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Denn der Aspekt des Übernahmeverschuldens führt zwangsläufig dazu, dass derjenige, der seine Aufgabe nicht nach dem Stand der ärztlichen Wissenschaft erfüllen kann, sein Leistungsangebot zurücknehmen muss. „Diese Verpflichtung trifft primär die Krankenhausträger, aber es haftet daneben u.U. auch der Arzt, der trotz der Strukturmängel die Behandlung übernimmt“,[212] wenn es zu einem dadurch ausgelösten folgenschweren Zwischenfall kommt.[213] Gleiches gilt z.B. auch beim Einsatz nicht gehörig qualifizierter oder sonst überforderter, etwa übermüdeter Ärzte. Der Chefarzt einer Abteilung muss organisatorisch gewährleisten, dass er mit dem vorhandenen ärztlichen Personal seine Aufgaben erfüllen kann, und zwar nicht nur durch ausreichend erfahrene und geübte Operateure, sondern auch durch Ärzte, die im (d.h. in jedem) Einzelfall mit der erforderlichen Konzentration und Sorgfalt operieren können. Deshalb dürfen zur Operation keine Ärzte herangezogen werden, die durch einen vorhergehenden anstrengenden Nachtdienst übermüdet und deshalb nicht mehr voll einsatzfähig sind.[214] Anderenfalls liegt ein Organisationsverschulden des betroffenen Chefarztes – und daneben unter Umständen ein Übernahmeverschulden des vor Ort tätigen Arztes – vor[215], das im Falle einer dadurch bedingten (im Strafprozess allerdings wohl schwer beweisbaren) Schädigung des Patienten zur Strafbarkeit nach §§ 222, 229 StGB führen kann. Wenn der Chefarzt aber alle objektiv gebotenen und subjektiv zumutbaren Schritte unternommen hat, um Abhilfe zu schaffen und den erforderlichen Facharztstandard zu gewährleisten, entfällt trotz vorliegender Pflichtverletzung gegenüber dem Patienten die strafrechtliche Schuld.[216]
(e) Sicherstellung der apparativen Ausstattung sowie Funktionsfähigkeit und Wartung der Geräte
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Zwar muss der Klinikträger die erforderlichen apparativen Einrichtungen bereitstellen, doch ist es eine Frage der „spezifisch fachärztlichen Kompetenz zu beurteilen, welche medizinischen Geräte und Apparaturen“ notwendig für die fachgerechte Behandlung sind.[217] Die Entscheidung dieser Frage obliegt daher dem Chefarzt (auch etwa Belegarzt) einer Abteilung.[218] Inhalt der Organisationspflichten des Chefarztes ist ferner die Unterweisung der Mitarbeiter in der Bedienung der Geräte[219] und die Sicherstellung ihrer Funktionsfähigkeit und Wartung[220]. So bejahte z.B. das OLG Hamm unter Billigung des BGH die Pflicht des Chefarztes einer Kinderklinik, „durch entsprechende Forderungen an die Verwaltung, aber auch durch Anweisungen und Kontrollen des Pflegepersonals“ sicherzustellen, dass beim Einsatz von Wärmflaschen in Inkubatoren der Anschaffungszeitpunkt der Flaschen erfasst wird, vor jedem Einsatz eine äußere Kontrolle der entsprechenden Flaschen erfolgt und diese nach vergleichsweise kurzer Gebrauchsdauer ausgesondert werden.[221] Der Chefarzt, der diese Organisationspflichten nicht einhalte, handle fahrlässig, „da er erkennen könne und müsse, dass daraus ernste Gesundheitsschäden bei den in den Inkubatoren liegenden Kindern eintreten konnten“.
Untersuchungen von medizinischen Schadensfällen im Zusammenhang mit medizin-technischen Geräten haben ergeben, dass in der weitaus überwiegenden Zahl Bedienungs- und Instandhaltungsfehler die Ursache waren und deshalb „ein strukturiertes Einweisungsprogramm“ mit „regelmäßigen Schulungen und praktischen Übungen“ das Risiko derartiger Zwischenfälle erheblich vermindern kann.[222]
(f) Weitere Gegenstände chefärztlicher Organisationszuständigkeit
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Zu den typischen Organisationspflichten gehört ferner z.B. die Aufstellung der Operationspläne und die Sicherung der Operationsindikation[223] sowie die Regelung der Medikamentengabe innerhalb der Abteilung, verbunden mit dem Hinweis an die Mitarbeiter, auf die Möglichkeit von ernsten Gefahren einer Medikamentenbehandlung zu achten.[224] Auch die Überwachung und Sicherung der Kranken im Rahmen des Erforderlichen und Zumutbaren ist eine Aufgabe, die der Krankenhausträger meist an den Chefarzt delegiert.[225] Praktische Relevanz haben diese Sorgfaltspflichten bei altersschwachen, unruhigen und vor allem gegenüber suizidgefährdeten Patienten (insbesondere) in einem psychiatrischen Krankenhaus. Insoweit führte der BGH aus:
„Ein Suizid während des Aufenthalts in einem psychiatrischen Krankenhaus kann niemals mit absoluter Sicherheit vermieden werden, gleich, ob die Behandlung auf einer offenen oder einer geschlossenen Station unter Beachtung aller realisierbaren Überwachungsmöglichkeiten durchgeführt wird. Eine lückenlose Überwachung und Sicherung, die jede noch so fern liegende Gefahrenquelle ausschalten könnte, erscheint nicht denkbar. Zudem sind stets die Erfordernisse der Medizin zu beachten, die nach moderner Auffassung gerade bei psychisch Kranken eine vertrauensvolle Beziehung und Zusammenarbeit zwischen Patient und Arzt sowie Krankenhauspersonal auch aus therapeutischen Gründen als angezeigt erscheinen lassen. Entwürdigende Überwachungs- und Sicherungsmaßnahmen, soweit sie überhaupt zulässig sind, können nach heutiger medizinischer Erkenntnis eine Erfolg versprechende Therapie gefährden. Ein zum Selbstmord Entschlossener findet ohnehin Mittel und Wege, seinen Plan auszuführen.“ [226]
Auch das OLG Zweibrücken belässt dem Oberarzt „im Zielkonflikt zwischen einer möglichst ungezwungenen, therapiefreundlichen Atmosphäre und dem notwendigen Sicherungsbedürfnis auf einer offenen Station einen Entscheidungsspielraum.[227]
Dass die Anforderungen an die Sicherungsvorkehrungen im Einzelfall aber durchaus strenger sein können, zeigt ein Beschluss des OLG Stuttgart[228]:
„Der Direktor der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie hatte die stationäre Behandlung einer 17-jährigen latent suizidgefährdeten Patientin mit dem Versprechen an die Eltern übernommen, ihre Tochter sei in der Klinik „sicher“, ohne vorher sie selbst und ihr Gepäck auf selbstmordgeeignete Gegenstände zu durchsuchen. Drei Tage nach ihrer Aufnahme erhängte sich das Mädchen mit einem mitgebrachten Kälberstrick.
Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft bejahte der Senat den hinreichenden Tatverdacht der fahrlässigen Tötung, da der Klinikdirektor infolge seiner persönlichen Zusicherung den Eltern gegenüber eine „gesteigerte Sorgfaltspflicht“ gehabt habe und deshalb aufgrund seiner Garantenstellung gewährleisten musste, dass die kranke, minderjährige Patientin keine für einen Selbstmord geeigneten Gegenstände bei sich habe und ununterbrochen überwacht werde.
Das Verfahren wurde im Rahmen des Klageerzwingungsverfahrens in entsprechender Anwendung des § 153a StPO eingestellt – eine rechtlich umstrittene, aber zweifellos salomonische Lösung.
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Nach § 22 ArbZG handelt ordnungswidrig, „… wer als Arbeitgeber …“ gegen bestimmte Pflichten des Arbeitszeitgesetzes verstößt. Meist übertragen die Krankenhausträger im Rahmen der Dienstverträge mit ihren Chefärzten diesen die Verantwortung, für einen geregelten Arbeitsablauf in ihrer Abteilung und die Einhaltung der Arbeitszeit seitens der nachgeordneten Ärzte Sorge zu tragen. Daraus resultiert, dass Bußgelder gegen Chefärzte von Seiten der Gewerbeaufsichtsämter wegen Überschreitung der Höchstarbeitszeit ihrer Mitarbeiter verhängt werden.[229]
Fehlt eine ausdrückliche dienstvertragliche Übertragung dieser – nach dem Gesetz den Arbeitgeber treffenden – Überwachungspflichten oder ist der Chefarzt infolge Personalmangels nicht in der Lage, die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes durch seine Mitarbeiter zu gewährleisten, darf er infolge Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung mangels Schuld nicht mit einer Sanktion (Bußgeld wegen Ordnungswidrigkeit nach § 22 ArbZG) belegt werden. Ultra posse nemo obligatur!
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Wie umfassend – und deshalb nicht enumerativ darstellbar – die Organisationspflichten eines Chefarztes