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Der Ansatz ist bis zum gewissen Grade verallgemeinerungsfähig: Verteidiger, die es, scheinbar zu Gunsten des Mandanten, mit dem Recht nicht so genau nehmen, können nicht mehr glaubwürdig eingreifen, wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft, sobald sie „am längeren Hebel sitzt“, ihrerseits versucht, den Beschuldigten und die Verteidigung mit unlauteren Mitteln unter Druck zu setzen. Arbeiten nicht alle Strafjuristen gemeinsam daran, ihre Verfahrensweisen strikt an dem jeweils geltenden Recht auszurichten, so breiten sich unweigerlich Wild-West-Methoden aus, die heute schon häufig beklagt werden und die sich dann im jeweiligen Einzelfall im Zweifel zum Nachteil desjenigen auswirken, der sich gerade in der schwächeren Position befindet. Das muss zwar nicht immer der Beschuldigte sein. Vielmehr hat die Verteidigung vielfach im Rahmen des ihr gesetzlich eröffneten Spielraums enorme Möglichkeiten, eine Verurteilung des Mandanten zu verhindern oder, wenn dies nicht gelingen kann, so doch in relativ erträglichem Rahmen zu halten. Darauf kommt es in diesem Zusammenhang aber nicht entscheidend an, denn eine Entwicklung des Strafprozesses zu einem reinen Machtspiel kann niemand wollen. Sie liefe letztlich nicht nur darauf hinaus, dass der Anspruch auf gleiche Behandlung von wesentlich Gleichem nicht mehr aufrechterhalten werden könnte. Auch die Berechenbarkeit der Ergebnisse, die für die Mandanten erhebliche Bedeutung besitzt und sie häufig erst entscheidend zur Suche nach Konsens motiviert, könnte eine solche, letztlich von Zufälligkeiten und völliger Beliebigkeit geprägte Justizpraxis ersichtlich nicht mehr gewährleisten.[54]
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Und selbst dann, wenn man all diese übergeordneten Überlegungen beiseiteschieben und die Frage nach dem richtigen Verhalten des Verteidigers ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Kosten/Nutzen-Relation in der jeweiligen, konkreten, singulären Verfahrenslage betrachten wollte, wäre nicht ausgemacht, dass rechtliche Indifferenz eine vertretbare Haltung darstellte. Manche Praktiker meinen zwar, es gelinge ihnen regelmäßig, unter Missachtung der rechtlichen Vorgaben die besten Ergebnisse für ihre Mandanten „herauszuhandeln“. Näherer Prüfung halten solche Behauptungen indes zumeist nicht stand. Sie sind auch wenig plausibel: Für die Beschuldigten würde sich eine rechtsvergessene Praxis des „Dealens“ dauerhaft und grundsätzlich nur lohnen, wenn die Mehrheit der Richter und Staatsanwälte entweder korrupt[55] oder aber den Verteidigern intellektuell weit unterlegen wäre. Für beides gibt es, zurückhaltend formuliert, keine ernsthaften Anhaltspunkte. Beugt sich aber umgekehrt der Verteidiger zu Lasten seines Mandanten dem Druck des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft und lässt sich auf eine unrechtmäßige Absprache ein, verrät er nicht nur das Recht, sondern seinen Mandanten gleich mit.
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Ein Spannungsverhältnis zwischen der strikten Bindung an Recht und Gesetz auf der einen und der Pflicht, die Mandanteninteressen zu wahren, auf der anderen Seite besteht also im Allgemeinen nicht. Im konkreten Fall kann es allenfalls dann anders aussehen, wenn der Verteidigung von Seiten der Strafverfolgungsbehörden „Angebote“ gemacht werden, die für den Mandanten in jeder Hinsicht günstig, aber rechtlich nicht vertretbar sind. Auch hier ist aber das richtige Verhalten meist unschwer zu bestimmen: Entweder droht aufgrund der Rechtswidrigkeit des „Deals“ die Revision oder der Verteidiger begibt sich selbst in die Gefahr standes- oder strafrechtlicher Verfolgung. Die verbleibenden Fälle, in denen der Verteidiger tatsächlich entscheiden muss, ob das mit derartigen Gefahren verbundene „Geschenk“ einer abwegig milden Rechtsfolge angenommen werden soll oder nicht, dürften allenfalls vereinzelt auftreten. Sie stellen die Verteidigung dann aber auch im Grunde nicht vor Rechtsprobleme: Der schlichte Rat an den Mandanten, beispielsweise einer ihn eindeutig unangemessen begünstigenden Verfahrenseinstellung nach § 153a – innerhalb des Anwendungsbereichs der Vorschrift – zuzustimmen, stellt für sich genommen kein rechtswidriges Verhalten dar.
2. Weder Wunderwaffe noch Bankrotterklärung der Verteidigung[56]
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Neben der praktischen Perspektive zugleich auch immer diejenige des Rechts einzunehmen, ist für die im weiteren Text gegebenen, auf die Praxis konzentrierten Hinweise aber auch deswegen unumgänglich, weil, wie noch im dritten Teil deutlich werden wird, auch die rechtmäßige Durchführung einvernehmlicher Verfahren und vor allem Verfahrensbeendigungen ein schwieriges und für die Mandanten oft riskantes Geschäft ist.
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Der Verteidiger sollte niemals vergessen, dass er bei einem Vorgehen im „traditionellen“ Stil, also schlicht der Nutzung der von der StPO zur Verfügung gestellten Verteidigungsmöglichkeiten und der Wahrnehmung der entsprechenden Rechte, beispielsweise derjenigen auf Akteneinsicht oder Stellung von Beweisanträgen, sowie bei sorgfältiger Aktenlektüre und gründlicher und umfassender Prüfung der Rechtslage sehr vieles für seine Mandanten erreichen kann. Ob die einvernehmlich erzielbaren Ergebnisse tatsächlich besser aussehen, ist vielfach nicht ausgemacht. Das erste Interesse an dem Zustandekommen strafprozessualer Verständigungen haben stets Gerichte und Staatsanwaltschaften, bei deren – angeblich – stets chronischer Arbeitsüberlastung die Hilfe der Verteidigung zur Verfahrensverkürzung und -vereinfachung natürlich hoch willkommen ist. Diese Gesichtspunkte spielen zwar auch für die Mandanten eine Rolle. Die Vermeidung der mit dem Verfahren verbundenen wirtschaftlichen und auch psychischen Belastungen kann und soll aber niemals um jeden Preis geschehen.[57] Überaus häufig ist aber, dass ein ganz formaler und, wenn man so will, „konservativer“ Verteidigungsansatz unter Inkaufnahme von Verzögerungen und Konflikten letztlich für den Betroffenen den besseren Weg darstellt.
3. Kein durchgängiger Widerspruch zwischen Konflikt und Konsens
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Die beiden Ansätze schließen sich dabei im Übrigen nicht aus. Es ist sehr gut vorstellbar und in der Praxis auch häufig unproblematisch, im Grundsatz den „Strafprozess von 1877“[58] durchzuführen, dabei aber zu Einzelpunkten, oft schon während des Ermittlungsverfahrens, insbesondere mit der Staatsanwaltschaft Gespräche zu führen und einvernehmliche Ergebnisse herbeizuführen.[59] Es kommt auch keineswegs selten vor, dass nach jahrelangen, mit allen von der StPO vorgesehenen Mitteln der Konfrontation geführten Auseinandersetzungen am Ende eines Ermittlungsverfahrens oder einer Hauptverhandlung doch noch eine Verständigung steht. Mit anderen Worten: Auch aus der hier grundsätzlich für richtig gehaltenen Auffassung, wonach Verständigungen im deutschen Strafverfahren einen legalen und legitimen Platz einnehmen können, folgt nicht, dass sich nun kurzschlüssig einfach eine lange Liste mit möglichen Verfahrenssituationen und dem jeweils dazugehörigen Tipp, wie sich diese im Gespräch mit den anderen Verfahrensbeteiligten optimal lösen lassen, erstellen ließe. Vielmehr muss gerade derjenige Verteidiger, der verständigungsfähig sein will, das hergebrachte Arsenal strafprozessualer Instrumentarien besonders gut beherrschen. Er muss selbstverständlich auch – aufgrund seiner Gestaltungsaufgabe vielleicht sogar in besonderem Maße – in der Lage sein, umfangreiches Aktenmaterial adäquat und in vertretbarer Zeit zu erfassen sowie die teils durchaus anspruchsvollen materiell-rechtlichen Prüfungen durchzuführen, von denen die zutreffende Einschätzung der Rechtslage abhängt. Erst auf einer solchen, soliden Basis kann überhaupt, je nach Verfahrenssituation, entschieden werden, ob, inwieweit, zu welchen Zeitpunkten und in welcher Form mit anderen Verfahrensbeteiligten Möglichkeiten einvernehmlicher Verfahrensweisen erörtert werden sollen.
Anmerkungen
Exemplarisch Fezer