Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › V. Verwaltungsrechtliche Institute in der Rechtsschutzperspektive
1. Historische Dimension
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Ein wichtiges Bekenntnis zur justizstaatlichen Konzeption fand sich – nach der langen Epoche lediglich verwaltungsinterner Rechtmäßigkeitskontrolle (Administrativjustiz) im 17. und 18. Jahrhundert[499] – in § 182 der Paulskirchenverfassung: „Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte.“[500] Diese Forderung nach gerichtlicher Kontrolle der Verwaltung überlebte auch das Scheitern der Paulskirchenverfassung.[501] Diskutiert wurde jetzt vor allem darüber, ob die Verwaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit unterworfen werden sollte (Otto Bähr) oder ob nicht die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit als „Kompromiss“ vorzugswürdig sei, der eine Gleichstellung von Bürger und Verwaltung vor den ordentlichen Gerichten vermied (Rudolf von Gneist).[502] Damit verbunden war die Frage nach dem Prüfungsumfang der Gerichte. Während die Befürworter einer spezifischen Verwaltungsgerichtsbarkeit oft zugleich eine Kontrolle der objektiven Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns anstrebten (sogenanntes Norddeutsches Modell), stand die Zuweisung zu den ordentlichen Gerichten zumeist für einen nur subjektiven Rechtsschutz (sogenanntes Süddeutsches Modell).
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Nicht nur in Ansehung dieser Kontroverse blieb die Kontrolle der Verwaltung auch nach der Reichsgründung von 1871 uneinheitlich.[503] Die meisten Länder, ausgehend von Baden (1863), etablierten nun eine Verwaltungsgerichtsbarkeit,[504] deren Rechtsprechung einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung heute allgemein anerkannter Verwaltungsrechtsgrundsätze hatte.[505] Der Zugang zu diesen Gerichten wurde jedoch durch eine abschließende Aufzählung von Entscheidungsformen, gegen die der Verwaltungsrechtsweg eröffnet war (Enumerationsprinzip), und das Erfordernis einer subjektiven Rechtsverletzung beschränkt.[506] Damit hatte sich insoweit das Süddeutsche Modell durchgesetzt.
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Mit der Einführung des Grundgesetzes[507] wurde im Westen Deutschlands durch Art. 19 Abs. 4 GG eine Begrenzung des Verwaltungsrechtsschutzes auf eine verwaltungsinterne Kontrolle ebenso unmöglich wie eine Zugangsbeschränkung über das Enumerationsprinzip.[508] Durch Art. 97 GG ist die Unabhängigkeit auch der Verwaltungsgerichte vorgeschrieben.[509] Mit der Errichtung des BVerwG als dem obersten Bundesgericht zur Wahrung der Rechtseinheit im Jahr 1952 (Art. 95 Abs. 1 GG) und dem Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung im Jahr 1960 war der bis heute geltende organisatorische und rechtliche Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit[510] vorläufig abgeschlossen.
a) Materiell-rechtliche Ausrichtung der Kontrolle
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Die Ausgestaltung der Kontrolle ist in Deutschland traditionell stark auf die materielle Rechtmäßigkeit ausgerichtet. Der „dienenden“ Natur des Verfahrens entspricht es, die Verfahrenskontrolle zurückzudrängen und auf Fälle zu begrenzen, in denen es zugleich um eine mittelbare Ergebniskontrolle geht. Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern beschränken die Kontrollmaßstäbe (§§ 45, 46 VwVfG).[511] Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen können grundsätzlich nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden (§ 44a VwGO), was einen verfahrensspezifischen Rechtsschutz verhindert. Selbständig durchsetzbare („absolute“) Verfahrensrechte sind punktuelle Ausnahmen geblieben (vgl. § 4 UmwRG, § 6 LuftVG, § 36 BauGB).
b) Das subjektive öffentliche Recht als Schlüsselkategorie
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Mit Art. 19 Abs. 4 GG („seinen Rechten“) rückt der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts in den Mittelpunkt des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes.[512] Verfahren, in denen allein die objektive Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln geprüft wird, sind in Deutschland – im Unterschied zu Frankreich[513] – die Ausnahme. Das einfache Recht statuiert in § 42 Abs. 2 VwGO schon für die Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Klage das Erfordernis der Möglichkeit der Verletzung eines eigenen subjektiven Rechts. Die Begründetheit einer Klage hängt nach dem Grundmodell des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO von der Verletzung eines subjektiven Rechts des Rechtsschutzsuchenden ab.
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Die Bindung des Rechtsschutzes an den Zentralbegriff des subjektiven Rechts ist auch über den unmittelbaren Anwendungsbereich der §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO hinaus anerkannt. Sie gilt für die – nicht ausdrücklich normierte – allgemeine Leistungsklage und – schon wegen der Akzessorietät zur Hauptsache – auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Sogar für die allgemeine Feststellungsklage wird von der herrschenden Meinung eine analoge Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO befürwortet,[514] was aber abzulehnen ist, da der Gesetzgeber in § 43 Abs. 1 VwGO gerade ein „berechtigtes Interesse“ hat genügen lassen, weshalb keine (planwidrige) Regelungslücke besteht.
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Über den Garantiebereich des Art. 19 Abs. 4 GG ist der deutsche Gesetzgeber lediglich in Einzelfällen hinausgegangen. Ein Beispiel für überindividuellen Rechtsschutz ist die abstrakte Normenkontrolle des § 47 VwGO, die zumindest insoweit den Charakter eines objektiv-rechtlichen Beanstandungsverfahrens trägt, als sie auch durch eine Behörde eingeleitet werden kann.[515] Hierbei handelt es sich um einen Fall von überindividueller Klagebefugnis kraft hoheitlicher Sachwalterschaft; in diese Kategorie gehört daneben auch noch die Klagebefugnis der Vertreter öffentlicher Interessen, der Gleichstellungsbeauftragten sowie von Wirtschaftskammern.[516] Eine für das Naturschutzrecht bedeutsame Ausnahme statuiert § 64 BNatSchG, der Naturschutzverbänden (behördlich anerkannten Vereinen) ein von der Möglichkeit der Verletzung subjektiver Rechte unabhängiges Klagerecht zuspricht (sogenannte altruistische Verbandsklage).[517] Ebenfalls hierher gehört die umweltrechtliche Verbandsklage nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 UmwRG, bei der der deutsche Gesetzgeber zunächst versucht hat, einen – unionsrechtswidrigen – Sonderweg („abstrakte Schutznormakzessorietät“) zu gehen, der ihm nun aber durch den EuGH abgeschnitten wurde.[518]
c) Begründung subjektiver öffentlicher Rechte, insbesondere Grundrechtswirkungen
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Auf der Grundlage eines weiten