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Auch der neu gefasste Art. 263 Abs. 4 AEUV geht insoweit nur für einen sehr begrenzten Bereich einen Schritt weiter, als er in der dritten Variante für „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“, also für untergesetzliche Verordnungen (Art. 290 UAbs. 1 AEUV) sowie Beschlüsse, auf die individuelle Betroffenheit des Klägers verzichtet. Für alle anderen normativen Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien mit Verordnungscharakter) verbleibt es indes beim geltenden Recht. Klagen gegen sie sind nur unter den Voraussetzungen der zweiten Variante zulässig.[604] Auch innerhalb der dritten Variante entfalten aber die Erfordernisse des unmittelbaren Betroffenseins und des Nichtnachsichziehens von Durchführungsmaßnahmen weiterhin erheblich limitierende Wirkungen.
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Schlüsselinstrument zur Herstellung effektiven Rechtsschutzes im europäischen Rechtsschutzverbund ist Art. 267 AEUV. Der Einzelne kann nationale Gerichte um Rechtsschutz ersuchen und diese gegebenenfalls dazu veranlassen, die Frage nach der inzident bestrittenen Gültigkeit eines Unionsrechtsakts dem EuGH vorzulegen.[605] Im indirekten Vollzug handeln nationale Gerichte insoweit als funktionale Unionsgerichte.[606] Soweit es an einem anfechtbaren Vollzugsakt fehlt, behilft man sich im deutschen Verwaltungsrecht damit, im Wege unionsrechtskonformer Auslegung des Prozessrechts eine Feststellungsklage nach § 43 VwGO zur Verfügung zu stellen.[607] Defizite des Rechtsschutzsystems bestehen daher im Wesentlichen nur in komplex gestuften Verwaltungsverfahren, da hier indirekter und direkter Vollzug eng miteinander verschränkt sind, was zu Transparenz- und Rechtsschutzeffektivitätsdefiziten führen kann.[608]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › VI. Verwaltung und Politik
1. Das deutsche Modell bürokratischer Herrschaft und der Vollzugsverwaltung
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Als wirkmächtiges Leitbild in der deutschen Verwaltungskultur hat sich Max Webers Konzept bürokratischer Herrschaft erwiesen. Als dessen Kennzeichen gelten: hauptamtliches Personal, Trennung von Amt und Person, Hierarchie, Regelgebundenheit des Entscheidens, Schriftlichkeit des Verfahrens.[609] Als Optimum rationaler Verwaltung erscheint dabei eine monokratisch organisierte, auf Subordination gründende, fachlich professionalisierte und auf den möglichst präzisen Gesetzesvollzug beschränkte Verwaltung.[610] Verwaltung ist somit in Deutschland, zumal in historischer Perspektive, idealtypisch apolitisch, in ihren Entscheidungen möglichst regelgebunden und damit berechenbar; Politik und Verwaltung sind getrennte Funktionen des öffentlichen Lebens.
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Das Bild bürokratischer und hierarchischer Herrschaft war dabei von Anfang an mechanistisch überzeichnet[611] und nie in Reinform verwirklicht.[612] Es kollidiert mit der gleichfalls traditionsreichen und in der Tendenz (Stichwort: „Kommunalisierung“[613]) erheblich zunehmenden Dezentralisation („vertikale Gewaltenteilung“[614] in Gestalt von Föderalismus und Selbstverwaltung[615]), dem Kollegialprinzip[616] und der vertikalen Dekonzentration.[617] Verwaltung war daher auch in Deutschland zu keiner Zeit anspruchsloser Gesetzesvollzug, sondern kannte schon immer Elemente autonomer Gestaltungsspielräume.[618]
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Namentlich die Planungseuphorie der 1970er-Jahre[619] sowie die Renaissance planerischer Instrumente im Zuge der Umsetzung des Integrations- und Nachhaltigkeitsprinzips (langfristige Ressourcenschonung) seit den 1990er-Jahren haben die politische Seite des Verwaltens[620] wieder stärker sichtbar gemacht. Auch fand in den letzten Jahren die Rationalitätskritik am bürokratischen Modell[621] unter Politikern und Juristen immer mehr Gehör, was sich in Reformbestrebungen wie dem New Public Management bzw. dem Neuen Steuerungsmodell niederschlug. Diese Reformen führten in der Tendenz zu einer weiteren Ökonomisierung („Politisierung“) und Dezentralisierung der Verwaltung.[622]
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Ungeachtet dessen entfaltet das Modell hierarchischer Vollzugsverwaltung in Deutschland weiterhin eine erhebliche Prägekraft und verkörpert – soweit keine verfassungsrechtlich vorgesehenen oder zumindest zugelassenen sonstigen Modelle bestehen (z.B. ministerialfreie Räume, Selbstverwaltung) – das verfassungsrechtliche Grundmodell.[623] Es steht für die bürokratische, unter einem Ressortminister monokratisch und hierarchisch organisierte Verwaltung, die auch empirisch den dominanten Verwaltungstypus bildet,[624] der auch im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells nicht entfallen ist, sondern nur seine Erscheinungsform verändert hat[625].
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Das demokratische Legitimationsmodell der Verwaltung, das nach Lesart des BVerfG neben der Gesetzesbindung vor allem auf der parlamentarischen Verantwortung der Regierung und Weisungsketten vom Ressortminister bis hinunter zum vollziehenden Amtswalter gründet, ist erkennbar vom bürokratischen Verwaltungsmodell geprägt. Korrespondierend werden Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung (z.B. Beurteilungsspielraum, Ermessen) nur sehr restriktiv anerkannt und in der Regel einer rigiden gerichtlichen Kontrolle unterworfen.
2. Das europäische Modell der Gestaltungsverwaltung
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Das Unionsrecht setzt demgegenüber stärker auf ein Modell der Gestaltungsverwaltung. Dieses Modell folgt anderen Akzenten wie Bürgernähe, Transparenz, faire Verfahrensbeteiligung und Ergebnisoffenheit rechtlicher Entscheidungen einerseits. Andererseits betont es damit aber zugleich auch in stärkerem Maße, als es der deutschen Verwaltungstradition entspricht, das politische Element von Verwaltung.[626]
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Die genannten Unterschiede zeigen sich repräsentativ anhand der europäisierungsbedingten Verschiebungen in der allgemeinen Strukturierung der administrativen Entscheidungsprogramme. Dazu zählen die Ersetzung gebundener Entscheidungen durch Ermessensentscheidungen oder Planungsentscheidungen, die Nivellierung der traditionellen, wenngleich zu keinem Zeitpunkt unumstrittenen[627] deutschen Dichotomie von Tatbestand (unbestimmter Rechtsbegriff) und Rechtsfolge (Ermessen)[628] sowie der Rückzug aus der konditionalen (unmittelbar verhaltensbezogenen) zugunsten einer finalen (unmittelbar zielbezogenen) Programmierung des Verwaltungshandelns[629]. Dies zeigt sich gerade im Umweltrecht, wo namentlich durch UVP-, IVU- und SUP-Richtlinie die Fokussierung auf finale Regelungsstrategien[630], die Konzentration auf integrierte (statt sektorale) Regelungsansätze[631] sowie die Prozeduralisierung und Qualitätsorientierung[632] bislang am deutlichsten ausgeprägt sind.
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Die an der Frage administrativer Entscheidungsprogramme festgemachten Detailbeobachtungen lassen sich verallgemeinernd als vorsichtiger Trend zu einer Ablösung des Modells der rein vollziehenden Verwaltung durch eine europäisierte Gestaltungsverwaltung beschreiben.[633] Mit einer solchen Gewichtsverschiebung gehen zwangsläufig