Auch das transnationale Aktions- und Kooperationsrecht[390] wird absehbar eine weitere Feindifferenzierung der Handlungsformen erfordern, weil sich bestimmte Interaktionsformen wie netzwerkartig institutionalisierte transnationale Behördenkooperationen[391] bislang mit den tradierten Formen des Verwaltungsvertrags einerseits und des Realakts andererseits nur unzureichend erfassen lassen. Beispiele wären etwa die für den Verwaltungsvollzug kardinalen, aber durch die administrative Handlungsformenlehre bislang nicht durchdrungenen Kooperationsstrukturen im Netz europäischer Wettbewerbsbehörden (§ 50a GWB) oder die internationalen Aufgaben der Bundesnetzagentur im Telekommunikationsrecht (§ 140 TKG). Notwendig ist hier eine produktive Verbindung internationaler Problemlösungserfahrungen mit der formalen Strukturgebung innerstaatlichen Verwaltungsrechts,[392] zu der gerade auch der Kanon rechtsförmlicher Handlungsformen zählt.
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Anfang der 1990er-Jahre wurde die deutsche Handlungsformenlehre durch die Rechtsprechung des EuGH erschüttert, die der (normkonkretisierenden) Verwaltungsvorschrift die fehlende Tauglichkeit attestierte, verbindliche und subjektive Rechte des Einzelnen begründende EG-Richtlinienbestimmungen umzusetzen.[393] Vor diesem Hintergrund ist der deutsche Gesetzgeber verstärkt dazu übergegangen, „technische“ Details des Unionsrechts (wie etwa Grenzwerte) im Verordnungswege umzusetzen. Hierbei hat er vielfach den – hinsichtlich seiner Zulässigkeit umstrittenen – Weg einer Generalklausel gewählt (vgl. z.B. § 6a Abs. 1 WHG)[394]. Richtigerweise wird man davon auszugehen haben, dass derartige Verordnungen in Zusammenschau mit dem (hinreichend bestimmten und seinerseits demokratisch legitimierten) Unionsrecht bei modifizierender Auslegung mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar sind.[395]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › IV. Verwaltungsrechtliche Institute in der Demokratieperspektive
1. Historische Dimension
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Demokratie und Verwaltung wurden aus historischer Sicht in Deutschland vergleichsweise spät miteinander versöhnt.[396] Teils revolutionäre Bemühungen um eine Demokratisierung des restaurierten Deutschlands im Vormärz (1815–1848) sind ebenso gescheitert wie der Versuch einer gesamtdeutschen Verfassunggebung auf demokratischer Grundlage („Paulskirchen-Verfassung“ vom März 1849).[397] Prägender Typus des Staats- und Verfassungsrechts im 19. Jahrhundert blieb bis Ende des Ersten Weltkriegs die konstitutionelle Monarchie, die auf einer eigentümlichen, letztlich inkohärenten Überlagerung von Fürsten- und Volkssouveränität beruhte.[398] Trotz kontinuierlicher Ausdehnung der Parlamentsgesetzgebung, der Etablierung des Reichstags als Parlament des Deutschen Reiches (1871) und der Festigung der parlamentarischen Budgethoheit seit dem Preußischen Verfassungskonflikt[399] blieben lange Zeit Elemente erhalten, die demokratischer Egalität widersprachen (Dreiklassenwahlrecht, Ausschluss des Frauenwahlrechts). Eine wirklich parlamentarisch-demokratische Verfassung, die auf den Prinzipien der Republik und der Volkssouveränität beruhte, stellte erstmalig die („Weimarer“) Reichsverfassung von 1919 dar,[400] an deren wesentliche Grundpfeiler später – nach faktischer Außerkraftsetzung während des „Dritten Reiches“[401] – auch das Grundgesetz unter entsprechenden Vorgaben der West-Alliierten 1949 anknüpfen konnte.[402]
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Eigentümlichkeit der deutschen Entwicklung hin zur Demokratie ist die Vorwegnahme des rechtsstaatlichen Elements als Kompensation für das weitgehende Scheitern von Forderungen des liberalen Bürgertums nach politischer Teilhabe im 19. Jahrhundert.[403] Diese Tradition, Verwaltung weniger proaktiv als Fortsetzung demokratischer Selbstbestimmung durch administrative Gestaltung, sondern eher defensiv als Bedrohung individueller Freiheit anzusehen, prägt die deutsche Verwaltungskultur bis heute. Demokratie und Rechtsstaat werden als separate und eher antagonistische Prinzipien gesehen, Verbindendes zwischen ihnen (z.B. die Wirksamkeit demokratisch gesetzten Rechts, der demokratische Gestaltungsauftrag der Verwaltung) eher vernachlässigt. Folgen sind eine intensive rechtliche Inhaltskontrolle, eine Zurückdrängung diskretionärer Entscheidungen, strikte Gesetzesvorbehalte und ein ausgebauter Individualrechtsschutz.
a) Formen demokratischer Legitimation
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Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) verlangt eine hinreichende Legitimation der Verwaltung im Wege parlamentarischer Einbindung (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG), das heißt ein bestimmtes Legitimationsniveau.[404] Hierfür kommen verschiedene Modi der Legitimation in Betracht. Sie sollen die Frage beantworten, mit welchen zulässigen Mitteln die Zurechnung der Staatsgewalt zum Volk bewirkt werden kann. „Klassisch“ ist dabei der Kanon von institutionell-funktioneller[405], materieller (sachlich-inhaltlicher) und personeller Legitimation.[406] Die materielle Legitimation vollzieht sich in zwei grundlegenden Formen, nämlich der demokratischen Steuerung und der Kontrolle der Verwaltung. Steuerung im – hier zugrunde gelegten – engeren Sinne ist dabei stärker auf die Herstellung der Entscheidung bezogen, nimmt also die Ex-ante-Perspektive ein, während Kontrolle primär als retrospektive Abweichungsanalyse zu verstehen ist.[407] Dass auch ein Kontrollinstrument wie die parlamentarische Verantwortlichkeit Vorwirkungen haben und insofern als Steuerungsinstrument (im weiteren Sinne) wirken und gelten kann, steht auf einem anderen Blatt.[408] Beide, Steuerung und Kontrolle, zielen auf eine Steigerung der Sachrichtigkeit der Entscheidung durch Einwirkung auf das Steuerungs- bzw. Kontrollobjekt. Hinzu tritt – gleichsam als zweiter Legitimationsstrang – die personelle Legitimation, die in einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern der Verwaltung besteht.
aa) Gesetz
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Im demokratischen Rechtsstaat ist das Parlamentsgesetz – ungeachtet unterschiedlicher Anpassungszwänge[409] – weiterhin das wichtigste Steuerungsmedium,[410] das durch sonstige Steuerungsformen (Organisation, Haushalt, Personal u.a.) nur ergänzt, aber nicht ersetzt werden kann. Dies ergibt sich bereits aus dem breit ausgebauten Vorbehalt des Gesetzes. Die Steuerung durch das Parlamentsgesetz kann aber, selbst wenn man Bereiche einer gesetzesfreien Verwaltung[411] von vornherein ablehnen wollte, schon wegen der jedem Normtext notwendig anhaftenden Unschärfe niemals vollständig sein. Eine Verwaltung, die nur der Vollstrecker des Parlamentswillens ist, gibt es nicht. Jeder gesetzliche Auftrag an die Verwaltung ist vielmehr zugleich eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen. Die Verwaltung hat die Lücken des gesetzlichen Auftrags zu füllen und ist von daher auch selbst zur Gestaltung der Lebensverhältnisse aufgerufen. Eine „Übersteuerung“ kann sich für den mit einer Verwaltungsaufgabe verfolgten Zweck sogar als ineffektiv erweisen.[412]
bb) Haushalt
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Die Verfügung über Finanzmittel verleiht Staatsorganen ein „Blankettinstrument zu wirtschaftlichem Handeln“[413] und damit erhebliche Macht.[414] Die „Macht des Geldes“ ist mit vielfältigen Vorgängen des Nehmens (Abgabenerhebung, staatliche Kreditnachfrage, erwerbswirtschaftliche Betätigung, Vermögensverwaltung) und des Gebens (Leistungsverwaltung, z.B. soziale Unterstützung, Subventionsvergabe, öffentliche Auftragsvergabe) verbunden, die der rechtlichen Umhegung und „Domestizierung“ bedürfen. Das Grundgesetz sorgt für diese notwendige Koordinierung staatlichen Gebens und Nehmens im Staatshaushalt.[415] Damit tritt neben die Programmierung der Verwaltung durch materielles Gesetz als ergänzendes demokratisches Steuerungsmedium die Haushaltssteuerung.[416]
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Der Haushalt