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Bei den Vorschriften über die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen ist zwischen der Einstellung nach § 153a und nach § 153 StPO zu unterscheiden: Die Einstellung des Verfahrens bedeutet einen Verzicht auf Strafe, wird aber im Rahmen eines kriminalpolitischen Gesamtkonzepts abgestufter strafrechtlicher Interventionen zur strafrechtlichen Sanktion, wenn bei § 153a StPO Auflagen verhängt werden, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen. Hingegen handelt es sich bei den Weisungen um Maßregeln der Besserung und Sicherung, auf die der „nulla-poena“-Satz nicht anwendbar ist. Allerdings beinhaltet § 153 StPO keine gesetzgeberische Entscheidung, dass Bagatellverstöße nicht strafbar sind. Diese Regelung trägt vielmehr dem Problem der begrenzten Ressourcen bei der Strafverfolgung Rechnung. Da dadurch keine Entscheidung über die fehlende Strafbedürftigkeit von Bagatell-Delikten getroffen wird, kann sich eine nachträgliche Einschränkung der Einstellungsmöglichkeiten nicht als verschärfende Rückgängigmachung einer Tatbewertung auswirken.[105]
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Soweit außerstrafrechtliche Beweisvermutungen und Beweislastregeln durch Strafgesetze ohne Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in Bezug genommen werden können,[106] unterliegen auch diese Art. 103 Abs. 2 GG. Dies gilt gleichermaßen für eine Änderung der Promille-Grenze bei § 316 StGB.[107] Hingegen dienen Beweisverbote dem Schutz außerprozessualer Interessen und Rechte des Beschuldigten, die von Art. 103 Abs. 2 GG nicht erfasst werden.[108]
d) Änderungen der Rechtsprechung
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Die Anwendbarkeit des Rückwirkungsverbots auf die strafrechtliche Rechtsprechung ist umstritten.[109] Rechtsprechung und h.M. in der Literatur wenden auf Änderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung § 2 StGB nicht an, da Art. 103 Abs. 2 GG nur „gesetzliche“ Bestimmtheit fordere.[110] Diese Problematik ist insbesondere anhand der Änderung der Rechtsprechung zum Begriff der absoluten Fahruntüchtigkeit in § 316 StGB diskutiert worden: Eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts hat die Herabsetzung der Promillegrenze von 1,3‰ auf 1,1‰ durch den BGH mit der Begründung gebilligt, die Gerichte seien nicht gehindert, bestimmte Sachverhalte aufgrund neuer tatsächlicher Erkenntnisse als tatbestandsmäßig zu qualifizieren.[111] Damit liegt der Umkehrschluss nahe, Änderungen des strafrechtlichen Unwerturteils durch die Rechtsprechung seien dem Rückwirkungsverbot zu unterwerfen: Wenn ein Gesetz erst durch eine konkretisierende Rechtsprechung hinreichend bestimmt wird, müssten Änderungen der Rechtsprechung zulasten des Betroffenen konsequenterweise auch dem Rückwirkungsverbot unterfallen.[112] Allerdings darf die Anerkennung der gesetzesergänzenden Funktion der Rechtsprechung nicht zur Gleichsetzung von Rechtsprechung und Gesetzgeber führen, denn gewisse Auslegungsspielräume sind der Rechtsprechung als fallorientierter Entscheidungsinstanz eigen.[113] Gleichwohl dürfte das Bundesverfassungsgericht[114] einen Wandel eingeläutet haben, weil es bei der Präzisierung unscharfer Tatbestandsmerkmale durch die Rechtsprechung dem Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen gesteigerte Bedeutung beimisst. Entsprechend sollte das Rückwirkungsverbot auf (unangekündigte) Änderungen der Bewertungsgrundlage einer gefestigten Rechtsprechung angewendet werden, die das Risiko einer Bestrafung für einen informierten Durchschnittsadressaten ausgeschlossen erscheinen lassen.[115]
e) Geltung des Gesetzes „zur Zeit der Tat“
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Die Geltung eines Gesetzes „zur Zeit der Tat“ (§ 2 Abs. 1 StGB) ist gleichbedeutend mit der Geltung „während der Begehung der Tat“ (vgl. § 2 Abs. 2 StGB). Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen (§ 8 S. 1 StGB). Zu welchem Zeitpunkt der tatbestandsmäßige Erfolg eintritt, ist – anders als für den Beginn der Verjährung (§ 78a S. 2 StGB) – nicht maßgebend (§ 8 S. 2 StGB).[116] Denn Strafrechtsnormen als „Bestimmungsnormen“ müssen ihre verhaltensregulierende Kraft spätestens bis zum Zeitpunkt des strafbaren Handelns entfalten.[117]
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Die Tatbegehung beginnt mit dem mit Strafe bedrohten Versuch; ein Handeln oder Unterlassen im straflosen Vorbereitungsstadium genügt nicht. Ist der Versuch nicht strafbar, so ist auf den Beginn des tatbestandsmäßigen Verhaltens abzustellen. Bei mehreren Beteiligten kommt es auf die Handlung jedes Einzelnen an, so dass für einen Gehilfen, der seinen Beitrag im Vorbereitungsstadium leistet, das zu diesem Zeitpunkt geltende Gesetz maßgebend ist.[118]
f) Änderungen der Strafbarkeit während der Begehung der Tat
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Gesetzesänderungen, welche die Strafbarkeit betreffen und zu einer Verschärfung führen, unterfallen § 2 Abs. 1 StGB[119] und nicht § 2 Abs. 2 StGB, der nach h.M. nur Änderungen der Strafart und Strafhöhe (Rn. 44) betrifft. Wenn ein bestimmtes Verhalten erst während seines Vollzuges durch Gesetzesänderung strafbar wird, darf der Täter nur bestraft werden, wenn sein Verhalten nach der Gesetzesänderung noch sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt.[120] Tätigkeiten, die zu einem Zeitpunkt vorgenommen worden sind, als sie noch nicht strafbar waren, müssen auch nach der Gesetzesänderung straffrei bleiben und dürfen nicht über Rechtsfiguren wie die natürliche oder rechtliche Handlungseinheit in die Strafbarkeit einbezogen werden,[121] so etwa bei der Vorteilsannahme bei Drittbegünstigung nach § 331 StGB, wenn die Grundvereinbarung zum Zeitpunkt ihres Abschlusses noch straflos und erst bei Annahme der Vorteile strafbar war.[122] Hierin läge ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Eine Änderung strafbegründender Merkmale kann nur die Teilakte erfassen, bei deren Begehung das neue Gesetz bereits in Kraft war.[123] Die Berücksichtigung von Änderungen der Strafhöhe während der Begehung der Tat bestimmen sich nach § 2 Abs. 2 StGB.
4. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 2 StGB: Änderungen der Strafart und Strafdrohung zwischen Beginn und Beendigung der Tat
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§ 2 Abs. 2 StGB
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Die Strafdrohung muss sich während der Begehung der Handlung geändert haben, nämlich gemildert oder verschärft worden sein.[127] Die Anwendung auch strengeren Rechts soll sich daraus legitimieren,