Seine heutige Fassung erhielt § 2 StGB durch das EGStGB vom 2. März 1974.[29]
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§ 2 StGB gilt nach dem Einigungsvertrag auch für Straftaten, die noch in der ehemaligen DDR begangen worden sind, modifiziert durch Art. 315 Abs. 1 bis 3 EGStGB.[30] Allerdings finden diese Absätze nach Art. 315 Abs. 4 EGStGB keine Anwendung für Taten, für die das deutsche Strafgesetzbuch aufgrund der allgemeinen Vorschriften über das Strafanwendungsrecht bereits vor dem 3. Oktober 1990 anwendbar war. Inzwischen ist diese Regelung weitestgehend bedeutungslos geworden.
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts › § 30 Zeitlicher Geltungsbereich › B. Hauptteil
I. Grundsätzliches
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§ 2 StGB definiert den zeitlichen Anwendungsbereich des Strafgesetzes und regelt damit die Frage, welches Recht anwendbar ist, wenn sich nach der Tatbegehung die strafrechtlich relevante Rechtslage geändert hat. Dabei umfasst der praktische Anwendungsbereich des intertemporalen Strafrechts neben den Änderungen des Strafgesetzbuchs selbst, die sowohl auf Entkriminalisierung als auch auf Ausweitung und Verschärfung des Strafrechts gerichtet sein können, auch außerstrafrechtliche Regelungen, die durch Strafgesetze in Bezug genommen werden (blankettausfüllende Gesetze). Neben Rechtsänderungen innerhalb einer kontinuierlichen Ordnung bestimmt sich auch die Ablösung einer Rechtsordnung durch eine neue, wie dies mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik der Fall war, nach den Vorgaben des § 2 StGB.
II. Ausgestaltung des intertemporalen Strafrechts in § 2 StGB
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§ 2 StGB regelt den zeitlichen Geltungsbereich der Straftatbestände mittels Einzelbestimmungen zur zeitlichen Geltung, die in ihrer Gesamtheit das intertemporale Strafrecht ausmachen.[31] Die Absätze 1 bis 4 regeln, ob und wonach der Täter bestraft werden kann; die Absätze 5 und 6 regeln, welche Nebenfolgen möglich sind. § 2 StGB greift ein, wenn es erst nach der Begehung der Tat zu einer Gesetzesänderung gekommen ist. Wenn ein Strafgesetz zwischen der Begehung und der Verurteilung einer Straftat geändert worden ist, stellt sich die Frage, welche der beiden Fassungen – das Gesetz zur Tatzeit oder das zur Entscheidungszeit – der gerichtlichen Entscheidung zu Grunde zu legen ist (Rn. 18 ff.). Wenn das Strafgesetz zwischenzeitlich mehrfach geändert worden ist, stellt sich die Frage, ob und wie das Zwischengesetz zu berücksichtigen ist, obwohl es weder bei der Tatbegehung noch zurzeit der Entscheidung in Kraft war (Rn. 63).
1. Prinzipien des intertemporalen Strafrechts
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Im Rahmen des § 2 StGB kommen folgende vier Prinzipien zum Tragen: das Rückwirkungsverbot (§ 2 Abs. 1 und 2 StGB; siehe unten Rn. 39 ff. und Rn. 57 ff.), das Meistbegünstigungsprinzip (§ 2 Abs. 3 StGB; siehe unten Rn. 60 ff.), die Einschränkung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB; siehe unten Rn. 77 ff.) und die Einschränkung des Rückwirkungsverbots für Maßregeln der Besserung und Sicherung im Interesse einer zeitgerechten Prävention (§ 2 Abs. 6 StGB; siehe unten Rn. 83 ff.).[32]
a) Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots durch § 2 Abs. 1 und 2 StGB
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§ 2 Abs. 1 StGB erklärt für Gesetzesänderungen zwischen Tatzeit und Entscheidungszeit das Tatzeitrecht für anwendbar und enthält damit eine einfachrechtliche Bestätigung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots (Art. 103 Abs. 2 GG), die neben § 1 StGB tritt. In der Mauerschützen-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht das Rückwirkungsverbot sogar als „absolut“ bezeichnet und darin ein „Spezifikum unter den Garantien der Rechtsstaatlichkeit“ gesehen.[33] Das Rückwirkungsverbot „bietet die Grundlage“ für den Einzelnen, „sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, dass er eine Strafbarkeit vermeidet“.[34] Das zur Entscheidungszeit geltende Gesetz darf deshalb die Strafe und die Nebenfolgen für die frühere Tat nicht rückwirkend bestimmen. Der Inhalt des § 2 StGB reicht insofern weiter als § 1 StGB und Art. 103 Abs. 2 GG, als in § 2 Abs. 2 StGB für Änderungen der Strafart und der Strafdrohung der Begriff „zur Zeit der Tat“ auf den Zeitpunkt bei „Beendigung der Tat“ festgelegt wird, der bei zeitlich gestreckter Tatbestandsverwirklichung zu Grunde zu legen ist; insoweit handelt es sich um eine verfassungsrechtlich nicht unproblematische Ergänzung des § 2 Abs. 1 StGB (näher dazu Rn. 58 ff.).
b) Meistbegünstigungsprinzip
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§ 2 Abs. 3 StGB ordnet für den Fall, dass das zur Zeit der Tat geltende Gesetz vor der Entscheidung geändert worden ist, die Anwendung des mildesten Gesetzes an. Da sich das Rückwirkungsverbot für nachträgliche Strafschärfungen schon aus § 1 und § 2 Abs. 1 und 5 StGB i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG ergibt, liegt die Bedeutung des § 2 Abs. 3 StGB darin, für nachträgliche Milderungen der Gesetzeslage ein Gebot der Rückwirkung für das mildeste, dem Tatzeitrecht nachfolgende Änderungsgesetz aufzustellen. Zugunsten des Täters ist danach vom Prinzip der Meistbegünstigung[35] auszugehen. Durch dieses Prinzip wird zum Ausdruck gebracht, dass das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 StGB einer rückwirkenden Anwendung des Strafgesetzes nur dann entgegensteht, wenn dies für den Betroffenen ungünstiger wäre als das Entscheidungszeitrecht (Rückwirkungsverbot in malam partem; unten Rn. 37).
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Das Meistbegünstigungsprinzip ist in Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR als Menschenrecht garantiert; auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh enthält ein Rückwirkungsgebot für mildere Gesetze.[36] Umstritten ist allerdings, ob das zum Zeitpunkt geltende mildere Gesetz anzuwenden ist, wenn zwischenzeitlich ein milderes Gesetz in Kraft war.[37]
c) Durchbrechung des Meistbegünstigungsprinzips für Zeitgesetze
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Bei Zeitgesetzen kommt das Milderungsgebot dem Täter nach § 2 Abs. 4 StGB nicht zugute. Hier gilt das Meistbegünstigungsprinzip nicht. Vielmehr soll für Zeitgesetze, weil deren Außerkrafttreten vorhersehbar ist, die faktische Geltungskraft der Norm sichergestellt werden, so dass dem Täter die Erwartung