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Grundsätzlich ist nach § 2 Abs. 2 StGB die bei Beendigung der Tat geltende Strafdrohung maßgeblich.[133] Für den Begriff der Beendigung der Tat kommt es auf den Zeitpunkt des letzten Teilaktes der Straftat an.[134] Bei Zustandsdelikten, wie den Eigentums- und Vermögensdelikten, den Körperverletzungsdelikten und der Personenstandsfälschung, führt der Täter einen rechtswidrigen Zustand herbei, mit dem die Tat abgeschlossen ist; die Aufrechterhaltung des durch die Tat geschaffenen Zustandes hat keine selbstständige strafrechtliche Bedeutung.[135] Daher sind Gesetzesänderungen, die nach Eintritt des rechtswidrigen Zustands eintreten, nicht zu berücksichtigen. Erst wenn durch das Untätigbleiben die Gefahr oder der Schaden vergrößert wird, kommt eine Fortsetzung durch unechtes Unterlassen in Betracht.[136] Demgegenüber enden Dauerdelikte, wie die Freiheitsberaubung, die fortdauernde Nötigung oder die Trunkenheitsfahrt erst mit der Aufhebung des rechtswidrigen Zustandes. Die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustandes bedeutet hier eine Intensivierung des Eingriffs.[137] Daher gehören sowohl Handlungen, die den Zustand schaffen, aufrechterhalten und schließlich abbrechen, als auch Unterlassungen, die ihn nicht beenden, zum tatbestandsmäßigen Verhalten,[138] soweit der Täter noch Einfluss auf das Geschehen hat.[139] Solange der vom Täter geschaffene rechtswidrige Zustand in die Geltungszeit des neuen Gesetzes hineinreicht, ist dieses Gesetz bei Dauerdelikten anzuwenden. Dies gilt für Verschärfungen sowohl der Strafbarkeit als auch der Strafhöhe sowie dann, wenn der weitaus überwiegende Teil der Dauerstraftat unter der Geltung der milderen Strafdrohung verübt worden ist. Der Tatrichter hat diese Besonderheit bei der Strafzumessung zu berücksichtigen; insoweit gilt bezüglich des vor der Gesetzesänderung liegenden Verhaltens auch das Rückwirkungsverbot.[140]
5. Regelungsgehalt des § 2 Abs. 3 StGB: Meistbegünstigungsprinzip
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Gemäß § 2 Abs. 3 StGB ist für den Fall, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tatbegehung und dem Zeitpunkt der Entscheidung eine Änderung des Gesetzes vorgenommen worden ist, das mildeste Gesetz anzuwenden.[141]
a) Anwendung des mildesten Gesetzes bei Gesetzesänderungen zwischen Beendigung der Tat und Entscheidung
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§ 2 Abs. 3 StGB begründet ein Rückwirkungsgebot für das mildeste Gesetz. Diese „Meistbegünstigungsklausel“ entspricht der Regelung in Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR und der in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh, wonach es dem Täter zugutekommt, wenn das Gesetz nach Begehung der Straftat eine leichtere Strafe vorsieht.[142] Das Gebot der Rückwirkung des mildesten Gesetzes ist bereits nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 StGB obligatorisch. Die Einschränkung des Reichsgerichts, die Gesetzesänderung müsse auf einer „geläuterten Rechtsauffassung“ beruhen, hat der BGH zu Recht aufgegeben[143] und damit dem Umstand Rechnung getragen, dass das Rückwirkungsgebot aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt und dem Prinzip des Vertrauensschutzes, dem Willkürverbot sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt.[144] Mit diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere mit dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit, wäre es unvereinbar, eine Sanktion zu verhängen, die in ihrer Existenz oder Strenge nicht mehr vom Willen des parlamentarischen Gesetzgebers gedeckt ist.[145]
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Auch bei milderen Zwischengesetzen sind diese Gerechtigkeitsvorstellungen von Bedeutung: Dem Betroffenen darf die ihm günstigere Gestaltung der Rechtslage durch ein milderes Zwischengesetz nicht nachträglich entzogen werden. Auch wenn überwiegend dem Milderungsgebot kein Verfassungsrang beigemessen wird, so dass der Gesetzgeber im Einzelfall abweichende Regelungen treffen könne,[146] kann dies nicht bedeuten, dass eine solche Entscheidung im Belieben des Gesetzgebers stünde.[147] Denn die Berücksichtigung des mildesten Zwischengesetzes stellt ein Problem der Willkürfreiheit und des allgemeinen Vertrauensschutzes, beide Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips,[148] dar. Dies bedeutet, dass im Falle einer nur kurzfristigen Ahndungslücke infolge eines Fehlers des Gesetzgebers das mildeste Gesetz ausnahmsweise nicht zur Anwendung kommen muss.[149] Erforderlich ist allerdings, dass der Gesetzgeber den Fehler nachträglich behebt. Schließlich wird die Nichtberücksichtigung einer zwischenzeitlichen Gesetzesaufhebung unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes problematisch, wenn die Straflosigkeit über eine längere Zeitspanne besteht[150] und nicht nur wenige Wochen andauert.[151] Außerdem ist das durch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantierte Milderungsgebot zu beachten, das keine Einschränkungen kennt.[152]
b) Bestimmung des mildesten „Gesetzes“
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Eine Milderung kann sich aus Änderungen des Besonderen wie auch des Allgemeinen Teils ergeben, unabhängig davon, ob sich die Regelung auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen oder auf die Rechtsfolge bezieht. Die völlige Aufhebung der Strafbarkeit bedeutet stets eine „Milderung“.[153] Gleiches gilt, wenn ein Strafaufhebungs- oder Strafausschließungsgrund eingeführt oder die Strafdrohung eingeschränkt wird.[154] Auch die Herabsetzung der Verjährungsfrist muss zugunsten des Täters berücksichtigt werden[155], nicht hingegen die durch den Beitritt eines Landes zur Europäischen Union verursachte Änderung des persönlichen Anwendungsbereichs einer Norm.[156]
aa) Anforderungen an die Unrechtskontinuität
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Wenn der Gesetzgeber die Tatbestandsvoraussetzungen modifiziert, so dass das Verhalten sowohl nach dem früheren Recht strafbar war als auch noch nach neuem Recht strafbar ist, muss zunächst geprüft werden, ob die Gesetzesänderung eine Fortsetzung der ursprünglichen Strafbarkeit darstellt oder aber wegen fehlender Unrechtskontinuität eine ersatzlose Streichung und Einführung eines neuen Straftatbestandes bedeutet. Dies bestimmt sich danach, ob der Unrechtskern des Delikts erhalten geblieben oder ob ein neuer Unrechtstyp geschaffen worden ist, weil der Gesetzgeber die bisherige Regelung für unzutreffend hielt und diese aus Gerechtigkeitsgründen bereits in der Vergangenheit nicht hätte angewendet werden sollen.[157] Im letzteren Fall wird einer Bestrafung des damaligen Normverstoßes rückwirkend die gesetzliche Grundlage entzogen. Wenn hingegen die bisherige Regelung nur verbessert und durch eine gerechtere ersetzt werden soll, entzieht die Gesetzesänderung für die damalige Straftat nicht die gesetzliche Grundlage des Strafens. Es soll lediglich für die Zukunft eine Verbesserung erreicht werden. Diese Abgrenzung nehmen Rechtsprechung und h.M. durch das Kriterium der Unrechtskontinuität vor.[158] Hierbei werden keine hohen Anforderungen an das Vorliegen eines gemeinsamen Unrechtskerns gestellt. Es soll ausreichen, wenn das Grunddelikt fortbesteht.[159] Auch Veränderungen des geschützten Rechtsguts sollen den Unrechtskern nicht tangieren.
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Gegen das Kriterium der Kontinuität des Unrechtstyps spricht dessen Unbestimmtheit, die nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ist.[160] Will man dem Rückwirkungsverbot und dem Schuldgrundsatz Rechnung tragen, so müssen die Schutzrichtung und die Angriffsmodalität identisch bleiben, denn beide