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Unrechtsidentität besteht daher zum einen bei einer bloßen Erweiterung des Tatbestandes, sofern der neue Tatbestand bereits in dem alten enthalten war, so dass die Sanktionsvoraussetzungen generalisiert worden sind[166], und zum anderen bei einer Beschränkung der Sanktionsvoraussetzungen, sofern der spezifizierte neue Tatbestand in dem alten Tatbestand implizit miterfasst war.[167] Hingegen entfällt jenseits dieser Konstellationen die Identität beim Austausch sanktionsbegründender Merkmale.[168]
bb) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf Blankettvorschriften
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Der Gesetzgeber kann im Strafrecht Rechtsänderungen nicht nur dadurch herbeiführen, dass er die Strafnormen selbst oder die Strafandrohung ändert, sondern auch dadurch, dass er außerstrafrechtliche Normen ändert, auf die in Straftatbeständen verwiesen wird (Blankettstrafgesetze). Sowohl das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts als auch der dem Milderungsgebot zugrundeliegende Gedanke, die verbessernde Rechtserkenntnis auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte anzuwenden, spricht für eine uneingeschränkte Anwendung des Milderungsgebots auf blankettausfüllende Normen: Wenn das ausfüllende Gesetz aufgehoben worden ist, fehlt es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an einer Eingriffsermächtigung, die eine Bestrafung ermöglicht. Eine Verurteilung würde gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Außerdem ist aufgrund der Regelung des § 2 Abs. 3 StGB im Strafrecht grundsätzlich jede neue gesetzgeberische Entscheidung, die zur Aufhebung oder Einschränkung der Strafbarkeit oder Strafe führt, als Rechtsverbesserung zugunsten des Täters zu berücksichtigen, sofern sie sich mildernd auswirkt. Um jedoch „absurde Begünstigungen“ zu vermeiden, die mit einer Einbeziehung aller Ausfüllungsnormen in den Anwendungsbereich des Milderungsgebots verbunden sein sollen,[169] werden verschiedene Einschränkungskriterien gefordert.
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Um blankettausfüllende Normen dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 3 StGB zu entziehen, sollen aufgrund der früheren Rechtslage bereits eingetretene „Regelungseffekte“ unberührt bleiben, wenn das Gesetz diesen Regelungseffekt und nicht die Norm selbst sichern wollte, so im Falle der Änderung einer Vorfahrtsregel, des Außerkraftsetzens von Geld, das gefälscht worden ist, und der Fremdheit bei den Eigentumsdelikten.[170] Dies soll auch für die Änderung steuerrechtlicher Normen gelten, sofern der bereits entstandene Steueranspruch durch die Gesetzesänderung nicht tangiert werde.[171]
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Weiterhin werden Ungehorsamstatbestände, die nicht dem Schutz eines Rechtsguts dienen, vom Anwendungsbereich des Milderungsgebots ausgenommen, wenn sie vor ihrer Aufhebung kraft Gesetzes in Zeitgesetze umgewandelt werden.[172] Die Einordnung eines Strafgesetzes als Ungehorsamsdelikt soll also nur für die Zulässigkeit gesetzlicher Übergangsregelungen Bedeutung haben, nicht aber zum Ausschluss des Milderungsgebots führen.
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Gegen die Abgrenzung nach der Sicherung eines Regelungseffekts oder das Vorliegen eines Ungehorsamstatbestandes spricht allerdings, dass dieses materielle Kriterium, an dem sich die Anwendbarkeit des § 2 Abs. 3 StGB in solchen Konstellationen entscheiden muss, verfehlt und zudem nicht trennscharf ist.[173] Wer eine blankettausfüllende Norm sichern will, kann dies faktisch nur über die reale Beachtung dieser Norm, also über den Gesetzesgehorsam, erreichen; die Sicherung des Gehorsams hat dann zwangsläufig die Sicherung des Regelungseffekts zur Folge.[174] Stellt man aber nicht auf die faktischen Wirkungen ab, sondern auf die Absicht des Gesetzgebers, lediglich den Regelungseffekt oder den Gehorsam zu sichern, so verliert das Kriterium seine Tauglichkeit, weil der Wille des Gesetzgebers nur selten verlässlich festgestellt werden kann. Außerdem spiegeln sich die Ungereimtheiten der Begrifflichkeiten in den Ergebnissen wider: Warum sollen zwischenzeitliche Herabsetzungen der Geschwindigkeitsbegrenzung im Straßenverkehrsrecht den Straftäter begünstigen, zwischenzeitliche Herabsetzungen der Steuersätze im materiellen Steuerrecht dagegen nicht?[175] Schließlich hätte die Anerkennung außerstrafrechtlicher Regelungseffekte zur Folge, dass dadurch dem Gesetzgeber die Möglichkeit genommen würde, für diese Fälle eine nachträgliche Milderung herbeizuführen. Dies widerspricht aber dem Demokratieprinzip, nach dem der Gesetzgeber hierüber entscheiden können muss.
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Im Hinblick darauf, dass § 2 Abs. 3 StGB nach materiellen Rechtslagen und deren Ergebnis für den Betroffenen und nicht nach der systematischen Einordnung von blankettausfüllenden Normen fragt, muss entschieden werden, ob eine im konkreten Ergebnis günstigere Gestaltung der gesamten Rechtslage zwischen der Begehung der Tat und der Entscheidung vorliegt.[176] Deshalb seien nur solche Änderungen blankettausfüllender Normen aus dem Anwendungsbereich des Milderungsgebots auszunehmen, die eine Regelungen durch eine andere ersetzen, die Rechtslage aber nicht günstiger gestalten.[177] Als Beispiele hierfür werden Geldfälschungen genannt, die strafbar bleiben sollen, wenn neue Münzen eingeführt werden; ein falscher Offenbarungseid werde nicht dadurch straflos, dass die ZPO an seine Stelle nur noch eine eidesstattliche Versicherung vorsehe; neue Vorfahrtsregeln gestalteten die Rechtslage ebenfalls nicht günstiger.
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Unter „Gesetz“ im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB ist grundsätzlich jede Rechtsnorm zu verstehen, auf die ein Strafgesetz Bezug nimmt.[178] Denn durch die Verweisung des Strafrechts auf außerstrafrechtliche Normen wird deren Inhalt dem Strafrecht einverleibt und damit zum Bestandteil der verweisenden Strafrechtsnorm.[179] Damit verändert jede durch einen Straftatbestand genommene neue Rechtsnorm den strafrechtlichen Auslegungstatbestand und damit auch die strafrechtliche Verbotsmaterie, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Blankettverweisung, ein normatives Tatbestandsmerkmal oder eine mittelbare Inbezugnahme handelt. Um den Anforderungen des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts zu entsprechen, muss das in Frage stehende Verhalten nach der neuen Gesetzeslage noch strafbar sein und das neue Gesetz muss als aktuelle Bewertung eines Sachverhalts durch den Gesetzgeber und damit als die bessere Rechtserkenntnis zugunsten des Täters zur Anwendung kommen. Nur wenn keine Bewertungsänderung vorliegt, weil die gesetzliche Änderung rein technische Regelungen betrifft, greift das Milderungsgebot nicht ein. Allein auf diese Weise kann den im Strafrecht besonders hohen Anforderungen an die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit Rechnung getragen werden, die auch für Rechtsgeltungsvorschriften gelten.[180] Außerdem kann durch die umfassende Anerkennung des Milderungsgebots erreicht werden, dass Normen, die wechselnden Bedürfnissen dienen, keine weiter reichende Rechtsgeltung eingeräumt wird als den klassischen, auf Dauer angelegten Straftatbeständen. Daher muss auch für außerstrafrechtliche Regelungen jede Gesetzesänderung grundsätzlich als „verbessernde Rechtserkenntnis“ zu einer strafrechtlichen Milderung führen.[181]
cc) Anwendbarkeit des Milderungsgebots auf rechtsnormative Tatbestandsmerkmale
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