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Des Weiteren garantiert Art. 19 Abs. 4 GG die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle.[215] Allerdings hält das Bundesverfassungsgericht es grundsätzlich für nicht geboten, die Einleitung und Führung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens vor Abschluss der Ermittlungen gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen. Die Rechtsschutzgarantie verlange nur Rechtsschutz zur „rechten Zeit“, weshalb ein Zuwarten dem Beschuldigten bis zur Entschließung der Staatsanwaltschaft nach § 170 StPO in der Regel zuzumuten sei.[216] Ausnahmen dürften allerdings bestehen, wenn der Beschuldigte durch das gegen ihn geführte Erkenntnisverfahren als solches bereits eine grundrechtliche Einbuße (etwa an gesellschaftlichem Ansehen) erfährt, die im weiteren Verfahren, selbst wenn es zu einer Einstellung oder einem Freispruch kommt, nicht mehr folgenlos ausgeräumt werden kann.
VIII. Beschleunigungsgebot
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Das Gebot effektiven Rechtsschutzes enthält implizit auch die Pflicht zur Gewährung von Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit.[217] Dabei ist die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen.[218] Die Pflicht zu Beschleunigung leitet das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, sondern unmittelbar aus den Freiheitsgrundrechten[219] oder – unter Rückgriff auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der die Angemessenheit der Frist sogar ausdrücklich statuiert – dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip her.[220] Speziell für Haftsachen ist die Beschleunigungspflicht in Art. 104 Abs. 3 S. 2 GG verankert; §§ 163 Abs. 2, 229 Abs. 1, 2 StPO greifen dieses verfassungsrechtliche Gebot auf der einfachgesetzlichen Ebene auf. Auch weitere Einzelvorschriften der StPO dienen der Verfahrensbeschleunigung (z.B. §§ 115, 121 f., 128 f., 228 f. StPO). Im Strafprozess besteht im Allgemeinen ein erhebliches Interesse an einer raschen Strafrechtspflege, da sie in Grundrechte des Beschuldigten empfindlich eingreift und die Güte der Beweismittel, vor allem die Erinnerungskraft der Zeugen, im Laufe der Zeit abnimmt.[221] Ferner steht das Beschleunigungsgebot im öffentlichen Interesse an zügiger Wiederherstellung des Rechtsfriedens.[222]
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Die Rechtsfolgen einer durch Verfahrensverzögerung veranlassten überlangen Verfahrensdauer waren über lange Zeit umstritten. So führte nach der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Verfahrensverzögerung nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern war lediglich bei der Strafzumessung oder einem späteren Gnadenerweis zu berücksichtigen.[223] Diese Judikatur fand im Grundsatz die Billigung des Bundesverfassungsgerichts.[224] Lediglich in Extremfällen komme von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis in Betracht.[225] Demgegenüber sah der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar eine Strafmilderung als prinzipiell adäquates Mittel als Reaktion auf überlange Verfahren an,[226] hielt es jedoch für unzureichend, wenn der Betroffene bei Verletzung des Beschleunigungsgebotes nur in den Genuss eines besonderen Strafmilderungsgrundes komme.[227] Die Konventionsstaaten seien aus Art. 6 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 13 EMRK außerdem verpflichtet, eine Rechtsbehelfsgarantie zur Beschleunigung des Verfahrens und zur Sicherung fristgerechter Gerichtsentscheidungen bereitzuhalten.[228] Deshalb forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland mehrfach nachdrücklich dazu auf, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen.[229] Diese Mahnung nahm der Große Senat für Strafsachen zum Anlass, die bisherige Strafzumessungslösung durch eine Vollstreckungslösung zu ersetzen, die für den Fall der vom Staat zu vertretenden Verfahrensverzögerung vom Tatrichter verlangt, zum Zwecke der Kompensation der hierin liegenden Verletzung von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK einen numerisch bestimmten Teil der verhängten Strafe für verbüßt zu erklären.[230] Daneben seien in außergewöhnlichen Fällen auch Verfahrenshindernisse als Folge überlanger Verfahrensdauer in Betracht zu ziehen.[231] Auch wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die mittlerweile in alle Prozessordnungen eingeführte kompensatorische Verzögerungsrüge[232] prinzipiell als sinnvollen und wirksamen Rechtsbehelf ansieht,[233] unterstreicht er in seiner jüngsten Judikatur erneut, dass es in Verfahren, in denen sich die Untätigkeit von Behörden oder Gerichten auf das Privatleben des Betroffenen auswirke, eines Rechtsbehelfs bedürfe, der verfahrensbeschleunigende Wirkungen entfalte.[234]
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Für ablehnende Gnadenentscheidungen soll Art. 19 Abs. 4 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gelten, da das Begnadigungsrecht gemäß Art. 60 Abs. 2 GG lediglich eine Befugnis begründe, dort helfend und korrigierend einzugreifen, wo die Möglichkeiten des formalisierten Gerichtsverfahrens nicht genügten.[235] Demgegenüber betonen Teile des Schrifttums, dass eine Gnadenentscheidung nicht von der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung ausgenommen sei, da Art. 19 Abs. 4 GG auf alle Hoheitsakte exekutiver Natur Anwendung finde.[236] Allerdings beschränke sich die gerichtliche Kontrolle von Gnadenentscheidungen auf eine Verfahrens- und Willkürprüfung.[237]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › C. Justizgrundrechte als besondere verfassungsrechtliche Einzelgarantien
I. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG)
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Das in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbriefte Recht auf den gesetzlichen Richter soll die Bestimmtheit und die Vorhersehbarkeit des zuständigen Richters garantieren und „der Gefahr vorbeugen, dass die Justiz durch Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird“.[238] Dabei ist unerheblich, von welcher Seite die Manipulation ausgeht; die Vorschrift richtet sich sowohl an die Gesetzgebung und die Verwaltung als auch an die Rechtsprechung selbst.[239] Insgesamt will die Garantie des gesetzlichen Richters als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips die Unabhängigkeit der Rechtsprechung wahren und das Vertrauen in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte sichern.[240] Insoweit steht Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in enger Verbindung mit der richterlichen Unabhängigkeit nach Art. 97 GG, die für alle staatlichen Gerichte gilt und einen unverzichtbaren Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips bildet.[241] Außerdem folgt aus dem Recht auf den gesetzlichen Richter das Verbot von Ausnahmegerichten, also solcher Gerichte, die in Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeit besonders gebildet und zur Entscheidung individueller Fälle berufen sind (Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG).[242] Ferner ergibt sich aus der Norm das Erfordernis, Gerichte für besondere Sachgebiete gesetzlich zu errichten (Art. 101 Abs. 2 GG).
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Gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sind das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper und die zu Entscheidung im Einzelfall berufenen Richter.[243] Die Bestimmung des Richters muss sich von vornherein möglichst eindeutig aus einem Parlamentsgesetz ergeben.[244] Hinzutreten müssen Geschäftsverteilungspläne