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Die staatliche Strafgewalt ist im Grundgesetz nur fragmentarisch und zudem bloß punktuell-verstreut konstituiert. Ein dem Finanzverfassungsrecht (Art. 104a–115 GG) entsprechender Abschnitt ist dem „Strafverfassungsrecht“ im Grundgesetz nicht gewidmet.[24] Vielmehr wird die staatliche Strafgewalt in verschiedenen Vorschriften (z.B. Art. 9 Abs. 2, 11 Abs. 2, 20 Abs. 3, 74 Abs. 1 Nr. 1, 92, 95, 101, 103 Abs. 2 GG) schlicht vorausgesetzt.[25] Ihre institutionelle Ausformung sowie die Normierung ihrer Handlungs-, Verfahrens- und Entscheidungsbefugnisse und deren materiell-rechtlichen Bewertungsgrundlagen obliegen primär dem Gesetzgeber.[26] Damit lässt die Verfassung Raum für die demokratische Gestaltungsfreiheit bei Schaffung und Ausgestaltung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung, des Gerichtsverfassungsgesetzes und der (Landes-)Strafvollzugsgesetze und anerkennt darüber hinaus die dogmatische Eigenständigkeit des Fachrechts.[27]
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Auf der anderen Seite unterliegt die staatliche Strafgewalt verschiedenen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Begrenzungen. Die allgemein gegenüber jeder staatlichen Gewalt nach dem Grundgesetz bestehenden grundlegenden Gewährleistungen und Staatsstrukturprinzipien (insbesondere Menschenwürde, Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip, Sozialstaatsprinzip, Bundesstaatsprinzip, materielle Grundrechte, Rechtsschutzgarantie und Verfassungsbeschwerde) gelten auch gegenüber der staatlichen Strafgewalt und binden diese sowohl in materiell-rechtlicher als auch in institutionell-verfahrensrechtlicher Hinsicht.[28] Aufgrund ihres in hohem Maße abstrakten Regelungsgehalts bedürfen diese grundlegenden Verfassungsgarantien allerdings der Konkretisierung und gesonderten Absicherung. Dies geschieht durch spezifische Vorkehrungen im Grundgesetz selbst.[29] Dabei richten sich manche dieser Vorkehrungen wiederum an die Staatsgewalt im Allgemeinen (Art. 92, 97, 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG) und sind nicht ausschließlich auf die Strafgewalt zugeschnitten. Andere konkretisierende Verfassungsgarantien, insbesondere die Justizgrundrechte, haben jedoch spezifisch die staatliche Strafgewalt im Blick und etablieren spezielle verfahrensrechtliche (Art. 104 Abs. 2–4 GG) oder besondere materiell-rechtliche (Art. 102, 103 Abs. 2–3, 104 Abs. 1 GG) Vorgaben.[30] Hinzu treten verschiedene strafrechtsorientierte Verfassungsgewährleistungen mittlerer Abstraktion, die das Bundesverfassungsgericht aus einer Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Kernprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Willkürverbot, Menschenwürdegarantie und allgemeinem Persönlichkeitsrecht entwickelt hat, etwa das Recht auf ein faires Verfahren, das Gebot der Waffengleichheit, die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts und die verfahrensrechtliche Maxime des nemo tenetur se ipsum accusare.[31]
II. Europa- und völkerrechtliche Implikationen
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In das Grundrechtsschutzsystem eingebunden sind auch die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention.[32] Wiewohl sie formell nur den Rang eines Bundesgesetzes nach Maßgabe des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bekleidet,[33] dient die Konvention, einschließlich der zu ihr ergangenen Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Garantien des Grundgesetzes.[34] Vor allem der Normtext und die Auslegung von Art. 3 EMRK (Folterverbot), Art. 5 EMRK (Begrenzung des staatlichen Festnahmerechts), Art. 6 EMRK (Garantie des fair trial) und Art. 8 EMRK (Recht auf Privatleben) durch den Straßburger Gerichtshof haben sich in Deutschland zu einer veritablen „strafrechtlichen Nebenverfassung“[35] entwickelt.[36] Art. 6 EMRK wohnt eine Reihe von strafprozessualen Verfahrensgarantien inne, die das deutsche Verfassungsrecht nicht ausdrücklich oder nicht in derselben Detailgenauigkeit kennt.[37] Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb – meist sogar unter explizitem Rekurs auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – die zentralen Aussagen des Art. 6 EMRK, namentlich das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), die Garantie der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) und den Schutz gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer (Art. 6 i.V.m. Art. 13 EMRK) auch als Verfassungsgarantien des Grundgesetzes anerkannt.[38]
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Darüber hinaus gewinnt der Grundrechtsschutz auf unionsrechtlicher Ebene für das deutsche Straf- und Strafverfahrensrecht zunehmend an Bedeutung. Zwar binden die Unionsgrundrechte die Organe der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ausschließlich bei Anwendung und Durchführung des Unionsrechts, also nicht im Rahmen der gesamten innerstaatlichen Strafrechtspflege.[39] Da sich der Aufgaben- und Tätigkeitsbereich der Europäischen Union aber auch auf den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV) erstreckt, nimmt der Bereich der unionsrechtlich determinierten Strafrechtspflege beständig zu. Art. 82 AEUV erklärt die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zur Grundlage der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.[40] Art. 83 AEUV stellt eine mittlerweile vermehrt in Anspruch genommene Kompetenzgrundlage zum Erlass von (ausfüllungsbedürftigen) Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen für bestimmte Kriminalitätsbereiche fest,[41] die in den (deutschen) innerstaatlichen Rechtsraum über Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG hineinwirken.[42] In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht das materielle und formelle Strafrecht zwar zu den besonders souveränitätsrelevanten Kernbereichen demokratischer Gestaltung gerechnet. Dennoch hat es nicht in Frage gestellt, dass eine Integration auf dem Feld des Strafrechts, soweit es um Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension geht, in einem Binnenmarkt unverzichtbar ist und auch verfassungsrechtlich zulässig sein kann.[43] Insbesondere wirkt sich dieses Postulat auf den Anwendungsbereich des Verbots der Mehrfachbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) aus, dem nunmehr auch ein europäisiertes Konzept zugrunde liegt.
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Angesichts gestiegener Mobilität ist ferner ein steigender praktischer Einfluss des Völkerrechts auf die verfassungsrechtliche Konturierung der deutschen Strafgewalt zu konstatieren. Zum einen werden seit alters her bestimmte Personen von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit, auch wenn sie sich auf dem Staatsgebiet befinden. Diese Exemtionen gründen sich sowohl auf die über Art. 25 GG verbindlichen allgemeinen Regeln des Völkerrechts als auch auf die beiden Wiener Übereinkommen über diplomatische bzw. konsularische Beziehungen,[44] die gemäß Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG im Rang eines Bundesgesetzes stehen. §§ 18 bis 20 GVG greifen die völkerrechtlichen Immunitätsvorgaben einfachgesetzlich auf. Zum anderen erstreckt sich der räumliche Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf Sachverhalte mit Auslandsberührung (vgl. §§ 3–7 StGB). Bei diesen Vorschriften des sog. „Internationalen Strafrechts“ handelt es sich zwar lediglich um die extraterritoriale Anwendung des innerstaatlichen Rechts, das selbst keinen völkerrechtlichen Ursprung hat.[45] Im Blick auf das völkerrechtliche Einmischungsverbot (vgl. Art. 2 Ziff. 1, 7 UN-Charta) ist eine extraterritoriale Erstreckung des nationalen Strafanspruchs aber nur so lange und so weit unproblematisch, wie ein legitimer Anknüpfungspunkt zum deutschen Staat besteht.[46] Genuine völkerrechtliche Vorgaben sind schließlich dem Völkerstrafrecht zu entnehmen, dessen Entwicklung mit dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg begann,[47] über die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ad hoc eingesetzten Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien[48] und für Ruanda[49] weiterentwickelt wurde und heute im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs[50] seinen vertraglichen Niederschlag findet. Den völkerrechtlichen Regelungen zur Begründung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, die mit der Ahndung schwerwiegender völkerrechtlicher