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Veranlasst durch die Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts,[289] hat der Gesetzgeber 2004 einen besonderen Rechtsbehelf gegen Gehörsverletzungen geschaffen,[290] der auch im Strafprozess relevant ist. So können mit der Anhörungsrüge nach § 356a StPO entscheidungserhebliche Verletzungen des rechtlichen Gehörs vor der Fachgerichtsbarkeit selbst dann gerügt werden, wenn kein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf mehr vorgesehen ist.[291]
IV. Nullum crimen, nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG)
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Der in Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege steht in engem Zusammenhang mit den Freiheitsrechten des Einzelnen gegenüber dem Staat[292] und enthält ein grundrechtsgleiches Recht mit vorwiegend abwehrrechtlichem Gehalt. Zudem ist Art. 103 Abs. 2 GG Ausdruck rechtsstaatlicher Grundsätze,[293] vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit.[294] Im Unterschied zu den übrigen Justizgrundrechten, bei denen die Eigenschaft als Prozessgrundrecht im Vordergrund steht, zielt Art. 103 Abs. 2 GG vornehmlich auf die materiell-rechtliche Bindung der Strafgewalt.[295] Diese Bindung konkretisiert sich durch drei verschiedene rechtsstaatliche Regeln, deren Gehalt auf die Formulierung von Feuerbach zurückgeht:[296] das Gesetzlichkeitsgebot (nulla poena sine lege scripta), das Bestimmtheitsgebot (nulla poena sine lege certa) und das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia). Teilweise wird das Analogieverbot in malam partem, das einen Unterfall des Bestimmtheitsgebots darstellt, als eigenständige vierte Regel (nulla poena sine lege stricta) des Art. 103 Abs. 2 GG angesehen.[297]
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In seinem Gewährleistungsumfang umfasst Art. 103 Abs. 2 GG alle staatlichen Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängen, das dem Schuldausgleich dient.[298] Erfasst werden also nicht nur Kriminalstrafen des Kern- und Nebenstrafrechts, sondern auch Sanktionen wegen Ordnungswidrigkeiten,[299] da für diese der Normzweck – Vorhersehbarkeit staatlicher Reaktion – in gleicher Weise zutrifft.[300] Aus entsprechenden Gründen unterfallen dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG prinzipiell sogar berufsgerichtliche Sanktionen und beamtenrechtliche Disziplinarstrafen.[301] Dagegen sind Beugemaßnahmen oder Ordnungsmittel nicht als „Bestrafung“ i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG zu qualifizieren.[302] Ebenfalls nicht erfasst sind Maßnahmen mit rein präventivem Charakter.[303]
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Art. 103 Abs. 2 GG gebietet die gesetzliche Bestimmtheit sowohl des Straftatbestandes (nullum crimen sine lege) als auch der Strafandrohung (nulla poena sine lege).[304] Zum Straftatbestand zählen alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit, einschließlich der Strafbarkeitsbedingungen, der Strafmilderungs- und Strafausschließungsgründe sowie des räumlichen Anwendungsbereichs des Strafrechts.[305] Auch die Strafandrohung unterfällt dem Strafbarkeitsbegriff;[306] zu dieser gehören alle dem Schuldausgleich dienenden strafrechtlichen Sanktionen, auch die Strafaussetzung zur Bewährung.[307] Demgegenüber fallen Strafverfolgungsvoraussetzungen, das Strafverfahrensrecht und Maßnahmen im Rahmen der Strafvollstreckung nicht unter Art. 103 Abs. 2 GG.[308] Art. 103 Abs. 2 GG etabliert Vorgaben für das materielle Strafrecht, äußert sich aber nicht zu der zeitlichen Dauer, während der eine in verfassungsgemäßer Weise für strafbar erklärte Tat verfolgt und vollstreckt werden darf.[309]
1. Gesetzlichkeitsgebot (nulla poena sine lege scripta)
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Obgleich der Gesetzesvorbehalt in Art. 103 Abs. 2 GG bloß in dem Wort „gesetzlich“ zum Ausdruck kommt, verschärft das Bundesverfassungsgericht die demokratische und rechtsstaatliche Gesetzesbindung zu einem strengen Parlamentsvorbehalt.[310] Die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe müssen in formellen Gesetzen enthalten sein.[311] Auch das Strafvollstreckungsrecht bedarf einer förmlichen gesetzlichen Grundlage.[312] Der Parlamentsvorbehalt soll zum einen den rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten bezwecken; insofern hat Art. 103 Abs. 2 GG freiheitsgewährleistende Funktion.[313] Zum anderen sorgt Art. 103 Abs. 2 GG dafür, dass im Bereich des Strafrechts allein der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet.[314] Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt. Es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt.[315] Der Gesetzgeber darf diese Entscheidung nicht der Strafjustiz überlassen;[316] auch nicht etwaigen Ermessensentscheidungen der Exekutive.[317]
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Gleichwohl fordert das Gesetzlichkeitsprinzip nicht, dass eine einzige gesetzliche Strafnorm Tatbestand und Rechtsfolge vollständig selbst regeln müsste. Zur Konkretisierung darf auf andere Rechtsakte verwiesen werden (sog. Blankettstrafgesetze).[318] Wird der Straftatbestand durch ein anderes förmliches Gesetz ergänzt, ist den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügt, wenn unmissverständlich klar ist, auf welche ausfüllende Norm verwiesen wird und die Voraussetzungen der Strafbarkeit hinreichend deutlich umschrieben sind.[319] Ergänzende Regelungen dürfen sogar durch administrative Rechtsetzungsakte getroffen werden.[320] So können Rechtsverordnungen, die sich im Rahmen von gültigen Ermächtigungen nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG halten, die Strafbarkeit begründen oder verschärfen.[321] Allerdings muss dann die Ermächtigung zur Strafandrohung durch Verordnung so genau umschrieben sein, dass die Voraussetzung der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Strafe für den Bürger schon aus der gesetzlichen Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten Verordnung entnommen werden können.[322] Dem Verordnungsgeber dürfen nur gewisse Spezifizierungen des Straftatbestandes überlassen werden, wobei der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso präziser bestimmen muss, je schwerer die angedrohte Strafe ist.[323]
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Ausnahmsweise können Blanketttatbestände sogar mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein, wenn sie erst durch Verwaltungsvorschriften ausgefüllt werden.[324] Auch hier gilt aber, dass sich die Voraussetzungen der Strafbarkeit sowie Art und Maß der Sanktion bereits aus dem Blankettgesetz mit hinreichender Deutlichkeit ablesen lassen müssen;[325] außerdem muss das Gesetz bezüglich der Ausfüllung auf die sog. „normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift“ exakt verweisen.[326] Da das Risiko einer Bestrafung für den Normadressaten vorhersehbar sein muss, kommen für die Ausfüllung zudem nur solche Verwaltungsvorschriften in Betracht, die förmlich publiziert und leicht zugänglich sind.[327] In ähnlicher Weise kann ein Strafgesetz ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG darauf angelegt sein, durch Verwaltungsakte ausgefüllt zu werden.[328] In einem solchen Fall hat das Gesetz Typus und Regelungsumfang des Verwaltungsaktes jedoch so weit festzulegen, wie der Verstoß gegen die entsprechende Verhaltenspflicht strafbewehrt sein soll. Darüber hinaus muss der die gesetzliche Regelung ausfüllende Verwaltungsakt in seinem konkreten Regelungsgehalt hinreichend bestimmt, also ohne Entscheidungsermessen der Erlassbehörde, sowie bestandskräftig sein.[329]
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Da Art. 103 Abs. 2 GG den Grundsatz der Gesetzesgebundenheit im Strafrecht etabliert, ist die gewohnheitsrechtliche Strafbegründung oder Strafverschärfung verboten.[330] Das Prinzip der Gesetzesgebundenheit bezieht sich jedoch nur auf das materielle Strafrecht i.S. der Strafandrohung,[331] bedeutet aber kein allgemeines Verbot des Gewohnheitsrechts.[332] Denkbar ist daher etwa, dass ein Strafgesetz durch stete Nichtanwendung, die sich auf eine neu gebildete Rechtsüberzeugung stützt, ungültig wird (sog. desuetudo); dann ist der Schutzbereich von Art. 103 Abs. 2 GG von vornherein nicht berührt.[333] Soweit sich Normen des Allgemeinen Teils des StGB gewohnheitsrechtlich, etwa im Wege einer Wandlung