V. Bundesstaatsprinzip
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Föderale Einflüsse auf das Gebiet des Strafrechts sind demgegenüber kaum zu verzeichnen. Dies liegt vor allem daran, dass das Grundgesetz das Strafrecht dem Katalog der Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuweist. Zum Strafrecht zählt die „Regelung aller, auch nachträglicher, repressiver oder präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, die an die Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat beziehen“.[169] Unter Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG fallen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben dem Kriminalstrafrecht als sog. „zweite Spur“ die Maßregeln der Besserung und Sicherung[170] sowie das Therapieunterbringungsgesetz.[171] Auch das Ordnungswidrigkeitenrecht ist von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG erfasst.[172] Darüber hinaus bezieht sich die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich auch auf die Gerichtsverfassung und den Strafprozess.[173] Ausgenommen sind neben dem Polizeirecht, das allein der Prävention dient,[174] lediglich der Strafvollzug und der Untersuchungshaftvollzug, nicht aber die Strafvollstreckung, die dem Strafverfahren als Teil des gerichtlichen Verfahrens zugeordnet ist.[175]
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Da der Bundesgesetzgeber von seiner Gesetzgebungskompetenz im Strafrecht, das in Bezug auf die Sperrwirkung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG rechtsgutbezogen zu bestimmen ist,[176] nahezu vollständig Gebrauch gemacht hat, sind landesrechtliche Vorschriften randständig. Landesstrafrechtliche Normen spielen lediglich auf dem Gebiet des Presserechts und des Versammlungsrechts eine Rolle.[177] Der Bundesgesetzgeber darf aufgrund seiner Kompetenz sogar Landesrecht mit Strafe oder Bußgeld bewehren,[178] soweit und solange er die Kompetenz der Länder zur inhaltlichen Ausgestaltung des Landesrechts nicht beeinträchtigt.[179] Regeln Landesverfassungen das Strafverfahren, wie etwa Art. 88–91 der Verfassung des Freistaates Bayern, geht ihnen das Bundesrecht gemäß Art. 31 GG vor; Landesrecht kommt nur ausnahmsweise ergänzend in Betracht (vgl. § 6 EGStPO). Soweit Landesverfassungen prozessuale Grundrechte gewährleisten, bleiben sie nach Maßgabe des Art. 142 GG zwar in Kraft, können aber weder den Bundesgesetzgeber noch den Bundesgerichtshof binden.[180] Auch wenn Landesverfassungsgerichte Bundesgesetze (etwa die Strafprozessordnung) auslegen und anwenden,[181] verbleibt Raum für die Anwendung von Landesgrundrechten nur, soweit das Bundesrecht keine abschließende Regelung trifft und Spielräume belässt.[182] Für das bundesrechtlich geregelte Strafverfahren ist das Landesverfassungsrecht daher regelmäßig ohne jede Bedeutung.[183]
VI. Materielle Grundrechte
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Art. 1 Abs. 3 GG, der die staatlichen Gewalten an den grundgesetzlichen Grundrechtsstandard bindet, gilt ohne jede Einschränkung auch für den Bereich des Strafrechts.[184] Daraus folgt zum einen, dass die staatliche Strafgewalt dem Schutz der Rechte des Individuums oder der Allgemeinheit zu dienen und so eine sich aus den Grundrechten des Staates ergebende Schutzpflicht des Staates zu verwirklichen hat.[185] Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, Grundrechte Dritter oder der Gemeinschaft stets strafrechtlich zu sichern. Ganz im Gegenteil fordert einzig das absolute Pönalisierungsgebot des Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG ein striktes Ergebnis ein; nur diese Norm etabliert einen unmittelbaren Verfassungsauftrag an den Strafgesetzgeber, die in der Vorschrift erfassten Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen.[186] Im Übrigen erfasst die Schutzpflichtendogmatik lediglich relative Pönalisierungsgebote. Die Strafbewehrung obliegt der Einschätzungsprärogative und dem Ermessen des Gesetzgebers, der dabei allerdings an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden ist.[187] Auch das Bundesverfassungsgericht ist im Rahmen der Schutzpflichtendogmatik zurückhaltend und geht zu Recht nicht davon aus, dass aus einzelnen Grundrechten konkrete Regelungsaufträge oder gar Strafgebote hergeleitet werden können.[188] Jede andere Auffassung würde die Grundrechtsbindung des Staates und die freiheitssichernde, abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil verkehren.[189] Aus diesem Grund wird eine immanente Schutzbereichsbegrenzung von Grundrechten durch strafbewehrte Verbotsnormen, wie dies vor allem in der älteren Literatur vertreten wurde,[190] heute nicht mehr verfochten.[191]
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Zum anderen greift die staatliche Strafgewalt in vielfältiger Weise nicht nur durch den Erlass von Strafnormen und die Verhängung und Vollstreckung einer Strafe, sondern auch schon bei Ermittlung und Strafverfolgung in Grundrechte des Betroffenen ein.[192] Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen sind durchweg mit einem – meist schwerwiegenden – Eingriff in Grundrechte verbunden.[193] Insofern dienen sowohl das materielle Strafrecht als auch das Strafverfahrensrecht als gesetzliche Ermächtigungen zum Eingriff in Grundrechte.[194] Allerdings unterliegt jeder gesetzliche Eingriff in Freiheitsrechte dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, ist also von rechtsstaatlichen Sicherungen nicht ausgenommen.[195] Außerdem folgt aus der Abwehrfunktion der Grundrechte, dass diese ihrerseits begrenzend auf die gesetzliche Eingriffsermächtigung wirken.[196] Lediglich unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen vor allem die Disponibilität des Rechtsguts gehört, kann eine Beeinträchtigung von Grundrechten mit Einverständnis des Betroffenen schon auf der Schutzbereichsebene ausscheiden oder aber infolge einer Einwilligung des Rechtsgutsinhabers auf der Schrankenebene gerechtfertigt sein.[197] Ferner gelten Grundrechte, da ein besonderes Gewaltverhältnis mit gutem Recht nicht mehr angenommen wird,[198] auch im Strafvollzug.[199] Deshalb können etwa Zwangsdurchsuchungen von Gefangenen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, als Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nur gerechtfertigt sein, wenn sie der Sicherheit und Ordnung der Haftanstalt dienen und ausschließlich in Einzelfällen und in schonender Weise durchgeführt werden.[200]
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Schließlich ist Grundrechtsschutz durch und im Strafverfahren zu verwirklichen.[201] Soweit sie nicht schon in der Strafprozessordnung ausdrücklich geregelt sind (etwa in § 136a Abs. 3 StPO), werden die sog. Beweisverwertungsverbote unmittelbar aus den Grundrechten abgeleitet.[202] Hier tritt der grundrechtliche Verfahrensbezug neben den objektivrechtlichen Aspekt des Rechtsstaates. Beide Komponenten führen zu einem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren.[203] Auch die Fürsorgepflicht des Gerichtes lässt sich nicht nur als eine Emanation des Sozialstaatsprinzips, sondern auch als eine grundrechtlich fundierte verfahrensrechtliche Schutzpflicht verstehen.[204]
VII. Rechtsschutzgarantie
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Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, wonach demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen steht, stellt eine „Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“[205] und eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips dar.[206] Zur öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Bestimmung gehören aber nicht Akte der Rechtsprechung.[207] Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nur Schutz durch, nicht gegen den Richter.[208] Dies bedeutet, dass Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug garantiert.[209] Dementsprechend wurden über lange Zeit die Bestimmungen der Strafprozessordnung über die Anfechtbarkeit gerichtlicher Durchsuchungsanordnungen für mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar erachtet. Dies galt insbesondere für diejenigen Fälle, wo die Durchsuchung bereits abgeschlossen war (sog. prozessuale Überholung).[210] Mittlerweile fordert das Bundesverfassungsgericht allerdings, dass auch richterlich angeordnete Ermittlungseingriffe, die sich typischerweise erledigen, bevor präventiver Rechtsschutz erlangt werden kann, einer eigenständigen nachträglichen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.[211] Dies gilt vor allem deshalb, weil das Strafverfahren auf ein anderes Rechtsschutzziel gerichtet ist als die Überprüfung individueller Ermittlungsmaßnahmen aufgrund des Richtervorbehalts.
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Darüber hinaus ist Art. 19 Abs. 4 GG im Kontext mit Art. 104 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG zu sehen.