III. Normenhierarchie und Gewaltenverschränkung
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Ungeachtet der inzwischen nicht mehr zu übersehenden europa- und völkerrechtlichen Implikationen richtet sich der Auftrag zur Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Garantien im Strafrecht freilich nach wie vor zuvörderst an den durch Volkswahl unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber. In zweiter Linie obliegt es den Fachgerichten, die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in den vom Gesetz gezogenen Grenzen bei der ihnen obliegenden Rechtsauslegung und -anwendung zu aktualisieren und weiterzuentwickeln.[54] Als (letztverbindlicher) „Hüter der Verfassung“[55] ist schließlich das Bundesverfassungsgericht dazu aufgerufen, den Gesetzgeber und die Rechtsprechung der Strafgerichte anhand der im Grundgesetz niedergelegten Maßstäbe zu kontrollieren.[56] Insoweit nimmt das Bundesverfassungsgericht auch eine bedeutende materielle Konkretisierungsfunktion wahr, indem es die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen auslegt und unter Umständen Korrekturen oder Spezifikationen durch den Gesetzgeber anregt.[57]
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Die Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts an der Aktualisierung der verfassungsrechtlichen Direktiven und Gebote steht in einem Spannungsverhältnis zu den Aufgaben des Gesetzgebers, dem die Aufgabe der Ausgestaltung des Systems der staatlichen Strafgewalt zukommt und der dabei über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum verfügt.[58] Deshalb muss die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts zurückgenommen sein. Eine zu strikte Einzelkontrolle oder eine zu weitgreifende verfassungskonforme Auslegung einfacher Gesetze läuft nicht nur Gefahr, den Aufgaben- und Kompetenzkanon der ersten Gewalt empfindlich zu beschränken, sondern auch strafrechtliche und strafverfahrensrechtliche Zusammenhänge fehlerhaft zu deuten oder die dogmatische Geschlossenheit des Strafrechts zu unterminieren.[59] Dementsprechend enthält die Verfassung nur Mindestgarantien und trifft lediglich unverzichtbare elementare Vorgaben für die staatliche Strafgewalt. Diese gehen jedoch nach ihrem Wortlaut, ihrem Geltungsgrund und ihrem Telos den gesetzlichen Ordnungen des Strafrechts, des Strafprozesses und der Strafvollstreckung eindeutig vor.[60] Da die Tätigkeit der staatlichen Strafgewalt in höchstem Maße grundrechtsrelevant ist, muss vom Verfassungsrecht ein überformender Einfluss auf das einfache Recht ausgehen.[61] Mit anderen Worten sind objektiv-rechtliche Wertedetermination und Ausstrahlungswirkung des Verfassungsrechts für das Strafrecht schlechthin systembildend.[62] In der Rechtspraxis bleibt allerdings entscheidend, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Wahrnehmung der ihm obliegenden Kontrollfunktion die funktionell-rechtliche Vorrangstellung des Gesetzgebers respektiert und insbesondere bei der Frage nach der Zwecktauglichkeit von Strafgesetzen die gebotene Zurückhaltung walten lässt, ohne dabei zugleich die grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen der Verfassung zu übergehen.[63] Parlamentarisch-demokratische Verantwortung und verfassungsgerichtliche Kontrolle sind letztlich gemeinsam dazu aufgerufen, in komplementärer Wechselwirkung und unter Einbeziehung auch internationaler menschenrechtlicher Mindeststandards zur Verwirklichung und Weiterentwicklung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gegenüber dem materiellen Strafrecht und dem Strafverfahrensrecht beizutragen.[64]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 2 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Strafrecht › B. Staatsstrukturprinzipien und grundlegende allgemeine Verfassungsgebote
I. Achtung der Menschenwürde
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Der Höchstwert der Verfassung, die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer „Magna Charta“ grundlegender Bindungen der staatlichen Strafgewalt geworden.[65] Im gesamten Bereich des materiellen und prozessualen Strafrechts verlangt die Achtung der Menschenwürde, dass der Beschuldigte oder Täter keinesfalls zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung oder Strafvollstreckung werden darf.[66] Daher haben zahlreiche und tragende verfassungsrechtliche wie einfachgesetzliche Einzelgewährleistungen ihre tiefere Wurzel in der Menschenwürdegarantie, so insbesondere der Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa),[67] das Folter- und Missbrauchsverbot (Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG, § 136a StPO), das Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG), das Verbot grausamer oder grob unangemessener Bestrafung,[68] das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Gebot einer menschenwürdigen Ausgestaltung des Freiheitsentzugs, die eine Verpflichtung zur Resozialisierung einschließt.[69] Bei lebenslanger Freiheitsstrafe verlangt die Menschenwürdegarantie die konkrete und grundsätzlich realisierbare Chance des Verurteilten auf Wiedererlangung der persönlichen Freiheit.[70] Auch das Schweigerecht des Beschuldigten wird als Ausdruck der Achtung vor der Menschenwürde angesehen.[71] Die Unantastbarkeit des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ bei modernen Ermittlungsmaßnahmen wie der Überwachung der Telekommunikation und des Wohnraums hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls mehrfach unterstrichen.[72] Sogar in Fällen mit extraterritorialem Bezug zieht der Menschenwürdevorbehalt des Grundgesetzes der Vollstreckung einer im Ausstellungsstaat erfolgten Verurteilung in absentia
II. Rechtsstaatsprinzip und seine wesentlichen
strafrechtsrelevanten Emanationen
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In nicht weniger gewichtigem Ausmaß stellt das Rechtstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG eine zentrale Leitlinie für die Ausübung von Strafgewalt dar. Es umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes die Forderung nach materieller Gerechtigkeit und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein.[74] Aus dem Rechtsstaatsprinzip erwächst für den Bereich der Strafrechtspflege eine Reihe von Einzelgewährleistungen, denen ebenfalls Verfassungsrang zukommt, wie etwa die Unschuldsvermutung,[75] die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit[76] und des Willkürverbots,[77] die justizförmige Verfahrensstrenge[78] sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes und das Verbot überlanger Verfahrensdauer.[79] Auch das Legalitätsprinzip, nach dem der Gesetzgeber die Voraussetzungen strafrechtlicher Verfolgung selbst bestimmen muss und nicht den Strafverfolgungsbehörden die Entscheidung im Einzelfall überlassen darf,[80] folgt nicht nur aus dem Demokratieprinzip und dem Gewaltenteilungsgrundsatz, sondern gerade auch aus dem Rechtsstaatsprinzip.[81] Darüber hinaus wirkt das Rechtstaatsprinzip als Auslegungsdirektive bei der Anwendung konkreter gesetzlicher Vorschriften.[82] Als übergreifender allgemeiner Rechtsgrundsatz steuert es die Ausübung der gesamten Strafgewalt.[83] Dem Rechtsstaatsprinzip kommt daher sogar bei Auslegung und Anwendung anderer – normhierarchisch gleichrangiger – strafrechtsrelevanter Verfassungsbestimmungen eine ergänzende und absichernde Funktion zu.[84]
1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der überwiegend aus dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit abgeleitet wird,[85] ist zur Feststellung der Verfassungskonformität strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen und ihrer Anwendung von überragender Wichtigkeit.[86] Speziell für das Strafrecht bedeutet das Verhältnismäßigkeitsprinzip nämlich, dass sowohl jede normative Strafbewehrung als auch jede auf dieser Grundlage verhängte Strafe oder Maßnahme, die in Freiheitsrechte