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Problematisch wird das Auseinanderfallen von Standesrecht und Strafrecht dann, wenn damit spürbare Wertungswidersprüche verbunden sind. Dies ist etwa seit dem Jahr 2011 im Hinblick auf den ärztlich assistierten Suizid der Fall. Im Strafrecht ist die Beihilfe eines Arztes zum Suizid eines anderen, z.B. eines Patienten, schon im Hinblick auf den Grundsatz der limitierten Akzessorietät straflos.[207] Dagegen enthält die Musterberufsordnung der Ärzte seit 2011 in § 16 S. 3 eine Klausel, die die Hilfe zur Selbsttötung verbietet. Eine ärztliche Suizidassistenz ist also nicht strafbar (und nach Maßgabe der herrschenden Sozialmoral auch nicht strafwürdig); dieser Wertung folgt aber nur ein Teil der Landesberufsordnungen, während das ärztliche Standesrecht anderer Landesärztekammern die ärztliche Suizidassistenz untersagt.[208]
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Die Situation wird noch dadurch kompliziert, dass nach wohl überwiegender Meinung das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) auch im Arzt-Patienten-Verhältnis zu beachten ist und einem ausnahmslosen Verbot der Suizidassistenz entgegensteht.[209] Für Ärzte und Patienten ist diese nur durch die Zusammenschau mehrerer Regelungsebenen erfassbare Rechtslage kaum mehr verständlich. Schon wegen der zentralen Bedeutung des Lebensschutzes für eine an humanistischen Grundsätzen orientierte Rechtsordnung sind Wertungswidersprüche auf diesem Gebiet auch rechtsstaatlich problematisch. Gerade beim Schutz so zentraler Rechtsgüter wie dem Leben sollten Grundrechte (hier: die allgemeine Handlungsfreiheit und die Gewissensfreiheit), das Strafrecht, die Sozialmoral und die einzelnen Standesrechte konform gehen.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › I. Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen und Technikstandards
I. Sorgfaltsanforderungen, Technische Normen
und Technikstandards
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Zahlreiche Normen der Sitte und der Moral verbieten das „grundlose“ Verletzen fremder Interessen. So gilt es als unmoralisch, zu stehlen, andere zu töten, am Körper zu verletzen, fremde Sachen zu beschädigen usw. Derartige Verbote orientieren sich am Leitbild gezielten, d.h. in der Sprache des Rechts: vorsätzlichen Handelns. Verletzungen, die aus Unvorsichtigkeit oder aus Leichtsinn zugefügt werden, werden milder beurteilt, auch wenn sie als moralisches Unrecht angesehen werden. Da, wie oben bereits ausgeführt, unterschiedliche Moralen existieren, und Moralen nur in Ausnahmefällen explizit gemacht werden (etwa in Untersuchungen zur angewandten Ethik oder in standesrechtlichen Ordnungen), herrscht über die bei der Entscheidung über das Vorliegen von „Unvorsichtigkeit“ oder gar „Leichtsinn“ anzuwendenden Maßstäbe oft keine Einigkeit; im Regelfall alltagspraktischer Bewertung wird diese Frage nicht einmal gestellt.
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Strafrecht entstammt meist den gleichen sozialen Normen und Wertungen wie die Sozialmoral einer Gesellschaft.[210] Strafnormen stellen deshalb in der Regel explizit gemachte, durchstrukturierte und rationalisierte Formen von Verbotstatbeständen der Sozialmoral dar. Auch die Strafrechtsdogmatik, also die Analyse der gegebenen Strafrechtsnormen und -praxis mit dem Ziel konsistenter Begriffsverwendung und Systematisierung, geht häufig von den alltagspraktischen Begriffen, Normen und Wertungen aus, macht diese explizit und rationalisiert sie, indem die Alltagspraxis von Widersprüchen befreit und in ein System gebracht wird.[211] Man könnte dies als Prozess „rationaler Rekonstruktion“ bezeichnen. Beispiele derartiger „Rekonstruktionen“ sind etwa die strafrechtswissenschaftlichen Präzisierungen von Alltagskonzepten wie „Handlung“, „Kausalität“, „Notwehr“ oder „Provokation“.
I. Ungeschriebene Sorgfaltsanforderungen
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Dieser „Umsetzungsprozess“ aus der allgemeinen Sozialmoral, aber auch aus bereichsspezifischen Sondermoralen in das Recht findet auch bei der Entscheidung über das Vorliegen von Fahrlässigkeit statt. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 BGB. Trotz der außerordentlichen praktischen Bedeutung der Fahrlässigkeitsnormen für das Strafrecht (und ebenso für das Zivilrecht) sind weder die Grundlagen noch die Details der Fahrlässigkeitsverantwortung zufriedenstellend geklärt.[212]
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Die Rechtspraxis geht (hierin wieder eine verbreitete Alltagspraxis aufgreifend und explizierend) häufig von Maßfiguren aus und fragt, wie sich ein „einsichtiger und besonnener Mensch“ in der konkreten Lage des Handelnden verhalten hätte.[213] Derartige Formeln stehen stets unter Zirkularitätsverdacht, weil allzu leicht eine eigene Entscheidung vorweggenommen und aus der heterogenen sozialen Wirklichkeit diejenigen Praktiken als Maßstab herausgegriffen werden, die dem eigenen Vorurteil entsprechen.
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Eine allseits überzeugende Methode zur inhaltlichen Bestimmung des Handlungsunwerts bei Fahrlässigkeitsdelikten steht noch aus.[214] Weitgehend unbestritten ist allenfalls, dass Sorgfaltspflichten dann entstehen, wenn ein Rechtsgut gefährdet erscheint und ein Schadenseintritt durch entsprechend „vorsichtiges“ Verhalten des in Frage stehenden Akteurs vermieden werden kann, dass Sorgfaltspflichten mit der Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts und der Wahrscheinlichkeit seiner Verletzung ansteigen und durch Gesichtspunkte wie dem Vertrauensgrundsatz[215] und dem Gedanken des erlaubten Risikos[216] begrenzt werden. Es handelt sich um eine Normsetzung bzw. Normkonkretisierung mit starken rechtsschöpferischen Elementen, die in enger Anlehnung an die Sozialmoral vollzogen wird.
II. Technische Normen
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In vielen Bereichen haben sich die in Einzelfällen postulierten Sorgfaltsnormen zu gewissen Standards verfestigt. Dies gilt etwa für die Regeln der ärztlichen Kunst.[217] Noch einen Schritt weiter gehen sog. technische Normen. Darunter versteht man private, oft von wirtschaftsnahen Organisationen verabschiedete einheitliche Regelungen, etwa zu technischen Verfahren, Qualitätsstandards, Sicherheit oder zu einer standardisierten Vertragsgestaltung.[218]
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Von technischen Normen zu unterscheiden sind technische Klauseln, also gesetzliche oder vertragliche Verweise auf einen bestimmten Stand der technisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Es lassen sich (mindestens) drei Typen von Technikklauseln unterscheiden: die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“, der „Stand der Technik“ und der „Stand von Wissenschaft und Technik“:[219]
1. | Allgemein „anerkannte Regeln der Technik“ sind Regeln, die sich aufgrund fortdauernder praktischer Erfahrung bewährt haben und in der Wissenschaft als theoretisch richtig (vorläufig) anerkannt sind[220] (vgl. etwa § 13 Abs. 1 S. 2 VOB/B). |
2. | Der „Stand der Technik“ (§ 3 Abs. 6 BImSchG) beschreibt technische Möglichkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt, basierend auf gesicherten Erkenntnissen von Wissenschaft und Technik. Im Gegensatz zu allgemein anerkannten Regeln der Technik, bei denen technische Verfahrensweisen bereits Eingang in die betriebliche Praxis gefunden und sich dort bewährt haben müssen, legt der Terminus „Stand der Technik“ geringere Anforderungen zugrunde.[221] |
3. |
Die Formulierung „Stand von Wissenschaft und Technik“
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