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Es existieren aber auch durch technische Entwicklungen hervorgerufene Regelungsprobleme, bei denen (bisher?) keine weltanschaulichen Gegensätze aufbrechen. Ein Beispiel hierfür sind die Fragen, die sich bei der strafrechtlichen Bewältigung neuer Formen sozialschädlichen Verhaltens im Internet oder Problemen der Anwendung überkommener strafrechtlicher Zurechnungsmodelle auf den teilautomatisierten Straßenverkehr stellen. Die Strafrechtswissenschaft steht hier vor einer dreifachen Aufgabe: 1) der Beratung rechtanwendender Instanzen bei der Bewertung der neuen Techniken und ihrer Subsumtion unter den gegebenen Normenbestand, 2) der Beratung der gesetzgebenden Instanzen im Hinblick auf die erfolgversprechendsten Formen des Rechtsgüterschutzes und 3) der Beratung der Techniker (Ingenieure, Informatiker) im Hinblick darauf, wie (straf-)rechtliche Haftungsrisiken vermieden werden können.[246] Letzteres kann als eine Form der Sicherung juristischer „Compliance“ verstanden werden.[247]
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Die Ansicht, Strafrecht habe sich auf den Schutz eines Kernbestands von Rechtsgütern zu beschränken und könne deshalb zur juristischen Einhegung der neuen Risiken nichts beitragen, überzeugt nicht.[248] Um die durch die technische Entwicklung entstandenen Regelungsfragen angemessen lösen zu können, scheint es dennoch ratsam zu sein, von einer vorschnellen Hinwendung zu primär strafrechtlichen Lösungsversuchen abzusehen und die Entwicklung der Sozialmoral abzuwarten. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem ultima-ratio-Grundsatz.[249] In der offenen Gesellschaft ist es nicht Aufgabe des Staates, die Lösung drängender moralischer Fragen mit den Mitteln der Strafgesetzgebung vorab zu entscheiden. In manchen Fällen[250] werden traditionelle Moralauffassungen auch im Strafrecht zurückzutreten haben, wenn sie mit neueren Entwicklungen der von der Mehrheit getragenen Sozialmoral nicht mehr übereinstimmen.
IV. Antworten
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Die neuen Herausforderungen lassen sich nur bewältigen, wenn die Strafrechtswissenschaft ihre Fixierung auf Strafrechtsdogmatik kritisch reflektiert und sich gegenüber anderen Disziplinen stärker öffnet. Dies gilt zum einen in Richtung auf die (empirischen) Sozialwissenschaften,[251] deren Erkenntnisse z.B. in Bezug auf die Wirkungen von Globalisierung, interkulturelle Spannungen und Nebenwirkungen des technischen Fortschritts[252] in viel stärkerem Maß als bisher rezipiert und in den Prozessen der Rechtsanwendung und Gesetzgebung berücksichtigt werden sollten. Vor allem die Rechtssoziologie hat zu den neuen Fragestellungen viel beizutragen, von einer empirisch soliden Problembeschreibung über das Aufzeigen möglicher Problemlösungen bis hin zur vergleichenden Darlegung von Lösungsansätzen anderer Länder.[253] Ohne kriminologische und insbesondere auch kriminalstatistische Grundlagen ist eine rationale Strafrechtsanwendung kaum möglich. Noch dringlicher ist die realwissenschaftliche Aufklärung für die Kriminalpolitik.
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Aber auch die Ergebnisse der modernen angewandten Ethik verdienen größere Aufmerksamkeit, als ihnen bislang von Seiten der Strafrechtswissenschaft entgegengebracht wurde. Teile der Ethik, insbesondere die analytische Ethik, verfügen über Begrifflichkeiten, Methoden und Analysekonzepte, die an Trennschärfe und Konsistenz denen der Strafrechtsdogmatik ebenbürtig sind und sie bisweilen sogar übertreffen dürften. Die Rechtspolitik, auch und gerade die Strafrechtspolitik, kann von der angewandten Ethik viel lernen.[254] Die ethische Reflexion kann dazu dienen, die anstehenden Fragestellungen klar zu erfassen, zu analysieren und zu strukturieren. Sie kann Problemlösungsvorschläge erarbeiten und kritisch prüfen. Die Ergebnisse derartiger Bemühungen lassen sich sodann gesetzlich umsetzen. Jede anspruchsvolle Rechtspolitik ist auf ethische Reflexion angewiesen.
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Viel spricht dafür, die erforderliche Öffnung der Strafrechtswissenschaft schon in der juristischen Ausbildung vorzubereiten, um spätere Kommunikations- und Verständnisprobleme vermeiden zu helfen.[255] Dies ließe sich etwa dadurch erreichen, dass der ethischen Reflexion in der Juristenausbildung eine stärkere Rolle zugewiesen wird. Außerdem sollte bereits den Studierenden die Bedeutung empirischer Forschung (z.B. in der Rechtssoziologie) sehr viel deutlicher gemacht werden, als dies bisher der Fall ist. Es geht nicht darum, die Bedeutung der Rechtsdogmatik zurückzudrängen – dogmatische Arbeit sollte auch in Zukunft im Mittelpunkt der strafrechtswissenschaftlichen Bemühungen stehen. Es gilt jedoch, bestimmte Engführungen, die mit der großen Idee einer „gesamten Strafrechtswissenschaft“[256] nicht zu vereinbaren sind, zu überwinden.
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Ein modernes, auf Rechtsgüterschutz ausgerichtetes und an der Menschenwürde und den Menschenrechten orientiertes Strafrecht sollte sich nicht länger scheuen, die zentrale Bedeutung von Kriminalitätsprävention für das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft offen anzuerkennen und sich von überholten „absoluten“ Strafkonzepten verabschieden.[257] Ein wichtiger Schritt in diese Richtung kann die Debatte um „Compliance“ sein. Auch wenn das Konzept an einigen terminologischen Verwirrungen und modischen Übertreibungen leidet, lenkt es doch den Blick auf zwei Umstände, die in der neueren Strafrechtsdogmatik teilweise in Vergessenheit geraten sind: 1) Recht, und damit auch Strafrecht, ist nur ein Teil des Normengefüges, welches menschliches Verhalten steuert, und 2) Kernaufgabe des Strafrechts ist nicht die vergangenheitsorientierte Verarbeitung von Kriminalfällen, sondern die zukunftsgerichtete Gestaltung der Gegenwart.
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
Ehrlich, Eugen | Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 4. Aufl. 1989. |
Forst, Rainer/Günther, Klaus (Hrsg.) | Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, 2011. |
Geddert, Heinrich | Recht und Moral. Zum Sinn eines alten Problems, 1984. |
Geiger, Theodor | Über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala, 1979. |
Geiger, Theodor | Studien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. durchgesehen und herausgegeben von Rehbinder, 1987. |
Hilgendorf, Eric | Humanismus und Recht – Humanistisches Recht? Eine erste Orientierung, in: Groschopp (Hrsg.), Humanismus und Humanisierung, 2014, S. 36 ff. |
König, René |
Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
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