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Kaum weniger entwickelt ist die wissenschaftliche Durchdringung im Strafprozessrecht,[156] dessen internationale Rezeption dennoch bislang weit hinter der des materiellen Strafrechts im Allgemeinen Teil zurückbleibt. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass der Gesetzgeber bislang nicht die Kraft zu einer umfassenden Reform des über weite Strecken einem Flickenteppich ähnelnden Strafprozessrechts aufgebracht hat. Hinzu tritt die Überforderung des überkommenen Strafverfahrensrechtes durch die Hypertrophie des materiellen Strafrechts.[157]
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Zur Dogmatik des Straf- und Strafverfahrensrechts als rechtswissenschaftliche Kerndisziplinen tritt die Kriminologie als empirische Disziplin hinzu; erst zusammen bilden sie die „gesamte Strafrechtswissenschaft“ (s.o. Rn. 3). Inhalt der Kriminologie ist die Erforschung von Straftaten, ihrer Ursachen und möglicher Präventionsstrategien. Kriminologie wird heute überwiegend als Kriminalsoziologie verstanden; insofern handelt es sich um ein Teilgebiet der allgemeinen Soziologie.[158] Zur Kriminologie gehören außerdem die Kriminalpsychologie und die Kriminalbiologie. Nicht mehr zur eigentlichen Strafrechtswissenschaft gehören Grundlagenfächer wie die (Straf-)Rechtsgeschichte,[159] die (Straf-)Rechtsphilosophie[160] und die (Straf-)Rechtstheorie.[161]
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Die Frage nach einer möglichen „Wertfreiheit“ der Wissenschaft gehört zu den großen Themen der Wissenschaftslehre, vor allem in den Sozialwissenschaften.[162] In der Rechtstheorie bzw. Rechtsphilosophie ist das Thema – trotz seiner überragenden Bedeutung gerade für die Rechtswissenschaft – bislang kaum aufgegriffen worden, obwohl gerade die in der Jurisprudenz allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen einer Betrachtung „de lege lata“ und „de lege ferenda“ den Zugang zur Problematik erleichtert. Es spricht sogar einiges dafür, dass Max Weber, der Urheber des Wertfreiheitspostulates, die entscheidenden Anregungen aus seinem Kontakt zur Jurisprudenz erhalten hat.[163]
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Das Wertfreiheitsproblem wurde immer wieder mit Fragen in Verbindung gebracht, die weit über das ursprüngliche Anliegen von Weber hinausgingen.[164] Weber formuliert im Kern ein methodologisches Postulat, nämlich die Forderung, Aussagen über die Tatsachen der eigenen Disziplin einerseits, persönliche Werturteile und Meinungsäußerungen andererseits strikt voneinander zu trennen. Es handelt sich, wie schon Max Weber betonte, letztlich um eine „höchst triviale Forderung: dass der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (…) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (…) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinne: „wertende“ Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt.“[165]
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Um das Problem der Wertfreiheit rational behandeln zu können, bietet es sich an, mit Hans Albert[166] vier unterschiedliche Teilaspekte des Werturteilsproblems zu unterscheiden, nämlich 1) die Frage nach der Bedeutung von „Werturteil“ (logisch/begrifflicher Aspekt), 2) die Frage nach der „Wertbasis“ der Wissenschaft, 3) die Frage, ob ein System, in welchem Werte und Wertungen vorkommen, unter den Begriff „Wissenschaft“ fällt, und schließlich 4) die Frage, ob oder inwieweit der (Rechts-)Wissenschaftler selbst wertend tätig sein sollte (Frage der Zulässigkeit der Kathederwertung).
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Zur Beantwortung der ersten Frage kann an das bereits oben zu Wertungen und Werten Ausgeführte (Rn. 53 f.) angeknüpft werden: Werturteile sind Wertungen in der Form von Urteilen (nach heutiger Terminologie: Aussagen), also in der Oberflächengrammatik einer Tatsachenaussage. Sie sind nicht empirisch prüfbar; weder die Prädikate „wahr“ und „falsch“ noch die übliche Aussagenlogik sind auf sie anwendbar.
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In Bezug auf die zweite Frage nach der Wertbasis der Wissenschaft – Albert spricht auch von der „existentiellen Basis“ – fällt die Antwort ebenfalls nicht schwer. Unter „Wertbasis“ einer Wissenschaft versteht Albert u.a. Zielsetzungen, Wahrheitsideale, Kriterien der Intersubjektivität (Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit, Bewährung, Kriterien der Akzeptanz), Regeln eines kritischen Diskurses und Erkenntnisprozesses, Auswahl der relevanten Probleme. Die Bereitschaft, bestimmten Standards dieser Art zu folgen, beruht auf einer wertenden Entscheidung. Es liegt auf der Hand, dass schon der Entschluss, sich mit Rechtswissenschaft zu beschäftigen, eine Wertung impliziert. Des Weiteren sind die Definitionen rechtlicher Grundbegriffe, wie Handlung, Kausalität usw., von menschlichen Wertungen abhängig.[167] Wertungen, die die Wertbasis betreffen, müssen aber nicht in den Aussagenzusammenhang einer Wissenschaft eingehen.
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Die Antwort auf die dritte Frage nach dem Vorkommen von Werten bzw. Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft lässt sich wie folgt formulieren: jeder Jurist, auch der an Universitäten tätige, wird sich regelmäßig mit Wertungen und Werten beschäftigen müssen. Nicht selten ist die Berücksichtigung von Wertungen und Werten sogar gesetzlich vorgeschrieben, etwa in § 242 BGB oder § 228 StGB. Auch die gesetzliche Fassung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) fordert den Rechtsanwender (und auch den Rechtswissenschaftler, soweit er rechtsanwendend tätig wird) zur Berücksichtigung außerjuristischer Wertungen und Werte auf.
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Dass sich Werte und Wertungen im Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft befinden, bedeutet jedoch noch nicht, dass die Rechtswissenschaft selbst wertend tätig sein muss. Dieses vierte Teilproblem der Werturteilsproblematik wirft besondere Schwierigkeiten auf. Soweit es die Rechtswissenschaft mit Normanalyse, der Herausarbeitung von Bedeutungsvarianten und mit Folgenabschätzung zu tun hat, kann sie wertfrei betrieben werden. Dagegen ist die Rechtsanwendung selbst, also die Entscheidung zwischen Deutungsvarianten sowie die Anwendung dieser Varianten auf einen konkreten Sachverhalt, von Eigenwertungen abhängig. Eine weit verstandene Rechtswissenschaft, die die Rechtsanwendung integriert, ist deshalb nicht ohne Weiteres mit dem Wertfreiheitpostulat in Einklang zu bringen.[168]
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Ein Ausweg besteht darin, zumindest begrifflich zwischen Rechtsdogmatik im engeren Sinne und der Rechtsanwendung zu unterscheiden. Rechtsdogmatik kann wertfrei betrieben werden, während die Jurisprudenz, verstanden als Rechtsdogmatik in Kombination mit Rechtsanwendung, nicht wertfrei erfolgen kann. Diese Differenzierung[169] besitzt eher theoretische denn praktische Bedeutung. Ein Rechtswissenschaftler, der wie allgemein üblich Rechtsdogmatik mit Rechtsanwendung verbinden möchte, sollte aber jedenfalls wertbewusst[170] vorgehen, sich der relevanten Unterschiede also bewusst bleiben.
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Etwas anderes gilt bei Themen und in Situationen, in denen die Unterscheidung zwischen den Tatsachen der einschlägigen Disziplin und eigenen politischen oder moralischen Wertungen von besonderer Bedeutung ist, etwa in einem wissenschaftlichen Gutachten zu einer politisch strittigen Rechtsfrage oder bei einem Vortrag vor juristisch nicht besonders geschulten Zuhörern (Problem der Kathederwertung). Um dem Postulat der Wertfreiheit Genüge zu tun, sollten Wissenschaftler in derartigen Situationen deutlich machen, ob sie rein dogmatisch argumentieren oder ob sie auch Eigenwertungen moralischer oder politischer Art einfließen lassen. Es ist ein Gebot der