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Der Gesetzgeber wird sich beim Erlass von Gesetzen in aller Regel[138] an den zu diesem Zeitpunkt in der Gesellschaft akzeptierten und insofern geltenden Werten orientieren. Mit einem Wertewandel verlieren die Gesetze allmählich ihre Verankerung im Wertbewusstsein der Bevölkerung. Gesetze sind also meist Ausdruck älterer Werte. Darin liegt eine Hauptursache dafür, dass Juristen, die „Hüter und Interpreten der Gesetze“, oft als konservativ angesehen werden.[139] Eine Zeit lang lässt sich dieser Prozess der Distanzierung des Wertebewusstseins vom geltenden Gesetzesrecht durch eine flexible Auslegung der Gesetzesnormen auffangen, doch irgendwann können die Spannungen zwischen einer Rechtsnorm und dem gesellschaftlichen Wertbewusstsein so groß sein, dass die Norm geändert werden muss. Beispiele hierfür sind die Änderungen im Recht des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. StGB) seit Anfang der 70er Jahre oder die Aufhebung des strafbewehrten Verbots der männlichen Homosexualität (§ 175 StGB) im Jahr 1994.
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Nicht immer wirken sich neue gesellschaftliche Wertungen im Sinne einer Entkriminalisierung aus. So zeigt sich etwa im Bereich der Sexualdelikte an Kindern seit Jahren ein Trend zur Verschärfung des Strafrechts.[140] Eine gesteigerte Punitivität, d.h. der Ruf nach mehr Strafrecht und verschärften Strafsanktionen,[141] lässt sich aber auch in vielen anderen Bereichen der Kriminalpolitik feststellen.[142]
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Eine weitere wichtige Erscheinungsform von Wertewandel im Zusammenhang mit Strafe ist die wechselnde Haltung gegenüber Täter und Opfer. Seit einigen Jahrzehnten gewinnt die Opferperspektive stetig an Gewicht. Ein „Mitverschulden“ des Opfers wird anders als im Zivilrecht nur in Ausnahmefällen berücksichtigt (vgl § 202a StGB).
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › E. Die Menschenwürde als Leitwert jeder humanen Rechtsordnung
E. Die Menschenwürde als Leitwert
jeder humanen Rechtsordnung
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Der Leitwert der deutschen Verfassungsordnung ist die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 1 EU-Charta). Es handelt sich nicht bloß um ein rechtliches, sondern auch um ein ethisches Konzept, wobei der Begriff in der Ethik in zahlreichen, oft ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird.[143] Die Orientierung des Rechts an der Menschenwürde ist die Kernforderung des juristischen Humanismus.[144]
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Ausgangspunkt für die juristische Bestimmung der Menschenwürde i.S.v. Art. 1 GG sollte die Tatsache sein, dass die Menschenwürdegarantie unserer Verfassung eine Reaktion auf die schlimmsten Verbrechen des „Dritten Reiches“ darstellt, also die Entrechtung ganzer Bevölkerungsteile, den Massenmord an Juden und anderen Minderheiten, Folter und medizinische Versuche an Menschen.[145] Die seit dem 18. Jahrhundert eingeführten Menschenrechte hatten sich als nicht ausreichend erwiesen, derartige Untaten zu verhindern. In der deutschen Verfassung ist die Menschenwürde deshalb noch stärker ausgestaltet als die Grundrechte, also die im Grundgesetz positiv geregelten Menschenrechte: die Menschenwürde ist, anders als die übrigen Grundrechte, nicht legal einschränkbar, d.h. jeder Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde ist eo ipso verfassungswidrig.[146]
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Um die inhaltliche Bestimmung von „Menschenwürde“ i.S.v. Art. 1 GG wird seit langem gerungen.[147] Lange Zeit fand die „Objektformel“ Günter Dürigs viel Zuspruch, wonach die Menschenwürde dann beeinträchtigt sein soll, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“.[148] In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die die Leistungsfähigkeit dieser Formel gerade zur Lösung problematischer Fälle in Zweifel ziehen.[149] Auch der Versuch, Menschenwürdeverletzungen über den Gesichtspunkt einer „Instrumentalisierung“ zu definieren, überzeugt jenseits eines ohnehin unstrittigen Kernbereichs von Menschenwürdeverstößen kaum.[150]
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Versucht man, den Begriff „Menschenwürde“ genauer zu fassen, so wird deutlich, dass sie sich als ein Ensemble grundlegender subjektiver Rechte deuten lässt, deren Zweck es ist, die Autonomie bzw. Autonomiefähigkeit des Individuums zu schützen. Dazu gehören das Recht auf ein materielles Existenzminimum, das Recht auf autonome Selbstentfaltung (also minimale Freiheitsrechte), ferner ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (gegen Folter), ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf geistig-seelische Integrität, ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit und ein Recht auf minimale Achtung.[151] Der Anwendungsbereich dieser Rechte ist durchaus eng zu verstehen, um die Anwendung der Menschenwürde in der Praxis nicht ad absurdum zu führen.[152]
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Nach überwiegender Ansicht kann die Menschenwürde als Basis der anderen Grundrechte verstanden werden: sie umfasst den „Kerngehalt“ der anderen Grundrechte. Darüber hinaus begründet die Menschenwürde die Verfassungsordnung insgesamt, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Neben dieser Begründungsfunktion wird die Menschenwürde auch als Leitwert bei der Auslegung von Gesetzen, einschließlich der Strafgesetze, verwendet und dient als Orientierungsmaßstab der Gesetzgebung. Man kann insofern von der Orientierungsfunktion der Menschenwürde sprechen. Eine dritte Funktion der Menschenwürde liegt in ihrer Rolle als kritischer Maßstab, an welchem Rechtsordnung und Rechtspolitik gemessen werden können (kritische Funktion der Menschenwürde). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes die Humanorientierung der Rechtsordnung sichert und damit ein wesentliches Element der Rechtsphilosophie der Aufklärung aufgreift, indem sie die Ausrichtung des Rechts auf den konkreten Menschen und seine basalen Bedürfnisse und Nöte als Leitwert der bundesdeutschen Rechtsordnung, einschließlich der Strafrechtsordnung, festschreibt.[153]
1. Abschnitt: Das Strafrecht im Gefüge der Gesamtrechtsordnung › § 1 Strafrecht im Kontext der Normenordnungen › F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik
F. Die Reflexionsebene: Rechtswissenschaft und Ethik
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Der Unterscheidung zwischen Recht und Moral entspricht der Unterschied zwischen Rechtswissenschaft als der wissenschaftlichen Untersuchung des Rechts und der Ethik als der Wissenschaft von der Moral.
I. Die (Straf-)Rechtswissenschaft und das Problem der Wertfreiheit
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Die Rechtswissenschaft ist nur schwer auf einen aussagekräftigen einheitlichen Begriff zu bringen, weil sie sehr unterschiedliche Teildisziplinen in sich fasst. Deutsche Rechtswissenschaftler und Juristen anderer Länder, die von der deutschen Rechtswissenschaft geprägt wurden,[154] verstehen traditioneller Weise die Rechtsdogmatik, also die begriffliche, in systematischer Absicht betriebene Analyse der Rechtsnormen, als Kern der Rechtswissenschaft.