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Der Verteidiger darf sich jedoch nicht darauf verlassen, dass sich „sein Gericht“ der im Vordringen befindenden Auffassung anschließt, dass eine rückwirkende Bestellung nach Beendigung des Verfahrens zulässig ist. Er muss vielmehr rechtzeitig vor der Hauptverhandlung seine Beiordnung beantragen und diesen Antrag – sofern noch nicht beschieden – zu Beginn der Hauptverhandlung nachdrücklich erneuern.
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Liegt unzweifelhaft ein Fall notwendiger Verteidigung vor, kann die Nichtbescheidung des Beiordnungsantrages ebenso wie seine Ablehnung die Besorgnis der Befangenheit des Gerichtsvorsitzenden begründen. Daneben hat der Beschuldigte das Recht der Beschwerde (§§ 304 ff. StPO).
Teil 1 Das Mandat des Strafverteidigers › II. Die Pflichtverteidigung › 5. Die Rücknahme der Bestellung aus „wichtigem“ Grund
5. Die Rücknahme der Bestellung aus „wichtigem“ Grund
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Lediglich in § 143 StPO ist die Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers für den Fall geregelt, dass der Beschuldigte einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt. Die Bestellung muss jedoch auch dann zurückgenommen werden, wenn ein Wahlverteidiger nach §§ 146a, 146 StPO zurückzuweisen oder nach §§ 138a f. StPO auszuschließen ist. Dies folgt – wie bereits hinsichtlich der Problematik der Verteidigerbestellung ausgeführt – aus der grundsätzlichen Gleichstellung von Wahl- und Pflichtverteidigung.[73]
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Nach BGH StV 2003, 210 und OLG Frankfurt/M. NJW 1999, 1414 soll die Rücknahme der Bestellung auch dann erfolgen, wenn für den Gerichtsvorsitzenden die konkrete Gefahr der Vertretung widerstreitender Interessen erkennbar ist. Dieser Auffassung ist bereits bei den Ausführungen zur Bestellung des Verteidigers entgegengetreten worden.
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Streitig ist, ob ein „wichtiger Grund“, welcher die Rücknahme der Bestellung rechtfertigen soll, auch dann vorliegt, wenn der Verteidiger aus Sicht des Gerichts zu einer sachgerechten Verteidigung nicht in der Lage, d.h. nach Auffassung des Gerichts hierzu unfähig sein soll. Dies ist strikt abzulehnen. Die Justiz ist nicht dazu berufen, die Verteidigung zu überwachen und zu bewerten. Verteidigungsziel und -strategie werden vom Beschuldigten und seiner Verteidigung autonom bestimmt. Das Gericht ist nicht befugt, extern festzulegen, wie der Beschuldigte sachgerecht zu verteidigen ist.[74] Dass der Beschuldigte sachgerecht verteidigt wird, hat der Verteidiger zu verantworten, nicht das Gericht. Die Rspr. offenbart hier im Gewand der dem Beschuldigten gegenüber obliegenden Fürsorgepflicht des Gerichts obrigkeitsstaatliche Tendenzen.
a) Rücknahme der Bestellung wegen „Missbrauchs“ prozessualer Rechte
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Von der Rspr. wird als besondere Ausprägung der Rücknahme der Bestellung wegen Unfähigkeit zur sachgerechten Verteidigung die Ansicht vertreten, dass der Verteidiger auch dann entpflichtet werden kann, wenn er angeblich eine „Konfliktverteidigung“ führt, aus der Sicht des Gerichts also „unter Missbrauch seiner prozessualen Rechte“ das Strafverfahren „sabotiert“. Nach der Rspr. des BGH sei die effektive Förderung des Strafverfahrens Pflicht aller Verfahrensbeteiligten.[75] Dies ergibt sich nach Ansicht des OLG Hamburg[76] aus dem Grundgesetz. Dessen Rechtsstaatsprinzip gebiete auch die Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. In diese Pflichtenbindung sei auch der Verteidiger mit einbezogen. Als Organ der Rechtspflege sei er nicht Gegner, sondern Teilhaber einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. Der Auftrag der Verteidigung läge daher nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem der Strafrechtspflege. Daher habe der Verteidiger mit dafür zu sorgen, dass das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt werde. Sowohl der ordnungsgemäße Verfahrensverlauf als auch die Eignung als Beistand des Angeklagten könnten verletzt sein, wenn der Verteidiger seine prozessualen Rechte missbrauche, um gezielt verfahrensfremde oder -widrige Zwecke zu verfolgen. Eine Entpflichtung des Verteidigers sei allerdings auf Ausnahmefälle beschränkt und bedürfe einer vorherigen Abmahnung prozessordnungswidrigen Verhaltens. Nach dem OLG Nürnberg rechtfertigt jedoch nur „ein Fehlverhalten von besonderem Gewicht“, nicht jedoch jedes unzweckmäßige oder prozessordnungswidrige Verhalten des Pflichtverteidigers dessen Abberufung.[77]
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Dieser Ansicht ist vehement entgegenzutreten. Das geltende Strafprozessrecht enthält keine allgemeine Missbrauchsklausel. Es regelt die Voraussetzungen, unter denen der Staat zum Zwecke der Strafverfolgung in die Grundrechte des Beschuldigten und Dritter eingreifen darf. Zugleich soll es durch verfahrensrechtliche Regelungen die gleiche Anwendung des materiellen Strafrechts durch gleiche Anwendung von Verfahrensrecht sichern. Daher ist übergreifendes Merkmal aller strafprozessualen Regelungen ihre Formenstrenge. Diese verbietet bei der Anwendung strafprozessualer Normen jeden Rückgriff auf subjektive Elemente, Erwartungen und Absichten der Verfahrensbeteiligten.[78] Daher hat das Bundesverfassungsgericht in seinem „Schily-Beschluss“ klargestellt, dass der Ausschluss eines Verteidigers ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig ist. Die strengen Anforderungen an die Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit der gesetzlichen Grundlagen eines Verteidigerausschlusses seien ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Der Ausschluss des Verteidigers nehme dem Beschuldigten nicht nur den Verteidiger seiner Wahl und seines Vertrauens. Er greife zugleich in die Unabhängigkeit des Verteidigers vom Staat ein. Der Verteidigerausschluss berühre damit auch die Belange der Rechtspflege selbst.[79] Es ist kein Grund ersichtlich, an die Rücknahme der Bestellung des Pflichtverteidigers geringere Anforderungen zu stellen als an den Ausschluss des Wahlverteidigers. Auch erstere tangiert das Recht des Beschuldigten auf Verteidigung durch den Anwalt seines Vertrauens und die Unabhängigkeit des Verteidigers von staatlicher Einflussnahme. § 143 StPO erlaubt nach seinem eindeutigen Wortlaut die Rücknahme der Bestellung der Verteidigung „aus wichtigem Grund“ gerade nicht. Ein solcher „wichtiger Grund“ hindert lediglich die Bestellung des vom Beschuldigten bezeichneten Verteidigers, § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, gestattet jedoch nicht dessen Entpflichtung.
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Die einzige Norm, welche die Bestellung eines anderen Verteidigers (und damit verbunden die Rücknahme der Bestellung des bisherigen) wegen des Verhaltens des Verteidigers vorsieht, ist § 145 Abs. 1 StPO. Die dort geregelten Fälle betreffen jedoch nicht einen aus Sicht des Gerichts angeblich betriebenen „Missbrauch“ von Verteidigungsrechten, also ein „Zuviel“ an Verteidigung, sondern im Gegenteil Fallgestaltungen, in denen der Beschuldigte schlicht und einfach überhaupt nicht verteidigt ist. Das Gericht hat daher durch die Bestellung bzw. Rücknahme der Bestellung eines Verteidigers nur sicherzustellen, dass der Beschuldigte, nicht jedoch, wie er verteidigt wird.[80] Allein die Rücknahme der Bestellung wegen angeblichen Missbrauchs von Verfahrensrechten durch den Verteidiger ist rechtsmissbräuchlich, denn sie erfolgt contra legem.
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Hat der Pflichtverteidiger Anlass zu der Annahme, dass es in der Hauptverhandlung zu erheblichen Konfrontationen mit dem Gericht kommen könnte, sollte er sich von dem Beschuldigten vorbeugend eine Wahlverteidigervollmacht erteilen lassen. Im Falle einer Rücknahme der Bestellung wegen des angeblichen Missbrauchs von Verteidigungsrechten