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Nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers erforderlich, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind (§ 12 Abs. 1 StGB).
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Ein weiterer Fall der notwendigen Verteidigung ist ein Verfahren, das zu einem Berufsverbot (§§ 70 ff. StGB) führen kann, § 140 Abs. 1 Nr. 3 StPO. Dieser Fall der notwendigen Verteidigung ist in der Praxis sehr selten.
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Das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 hat mit Wirkung zum 1.1.2010 die Nr. 4 des § 140 Abs. 1 StPO neu gefasst. Danach stellen die Vollstreckung von Untersuchungshaft sowie ferner die einstweilige Unterbringung einen Fall der notwendigen Verteidigung dar. Ein Fall notwendiger Verteidigung ist dann für alle Strafverfahren gegen den Beschuldigten gegeben, ohne dass es darauf ankommt, in welchem die U-Haft vollzogen wird.[10] Aufgrund der Schwere des Eingriffs in das Freiheitsrecht des Beschuldigten und der erheblichen Beschränkung in seiner Verteidigungsfähigkeit, die mit einer Inhaftierung bzw. einstweiligen Unterbringung verbunden sind, war diese Erweiterung der obligatorischen Verteidigerbestellung erforderlich. Nach § 141 Abs. 3 S. 5 StPO wird der Verteidiger unverzüglich nach Beginn der Vollstreckung bestellt. Dabei ist das Anhörungs- und Bestimmungsrecht des Beschuldigten aus § 142 Abs. 1 StPO zu beachten.[11] Gemäß § 140 Abs. 3 S. 2 StPO bleibt die Bestellung bei einer Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft bzw. der einstweiligen Unterbringung nur dann wirksam, wenn er sich mindestens 3 Monate in Haft bzw. Unterbringung befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Das Gericht hat anderenfalls jedoch zu prüfen, ob nicht ein anderer Beiordnungsgrund vorliegt. Deshalb endet die Bestellung des Verteidigers nicht automatisch. Die Beendigung der Bestellung erfordert vielmehr eine Entscheidung des Vorsitzenden über deren Rücknahme.[12] Der Vorsitzende hat zuvor dem Beschuldigten, und zwar über den noch bestellten Verteidiger, rechtliches Gehör zu gewähren.
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Gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig, wenn sich der Beschuldigte mindestens seit drei Monaten auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befunden hat und nicht mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung entlassen wird. Das Gesetz will mit der Anordnung der notwendigen Verteidigung die Behinderung der Vorbereitung der Verteidigung ausgleichen, welcher sich der in amtlichem Gewahrsam befindende Beschuldigte aufgrund seiner Freiheitsentziehung ausgesetzt sieht. Wegen des Gesetzeszweckes ist es belanglos, welcher Art die Verwahrung ist. Der Beschuldigte kann sich in Strafhaft, Untersuchungshaft oder vorläufiger Unterbringung in anderer Sache, in einem Erziehungsheim oder einer Entziehungsanstalt befinden oder aufgrund des Unterbringungsgesetzes eines Landes untergebracht sein. Nach h.M. muss die Anstaltsunterbringung nicht ununterbrochen drei Monate lang angedauert haben. Kurze Unterbrechungen der Verwahrung sind unschädlich.[13] Selbst wenn der Beschuldigte zwei Wochen vor der Hauptverhandlung entlassen wird, bedeutet dies nicht zwingend, dass kein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt. Maßgeblich ist in diesem Fall, ob die Behinderung in der Vorbereitung der Verteidigung trotz der Entlassung aus dem Gewahrsam fortwirkt.[14] Ist dies der Fall, ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO notwendig.
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Kritik an der gesetzlichen Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO übt Beulke. Die erst drei Monate nach der Inhaftierung erfolgte Verteidigerbestellung steht im Widerspruch zu Art. 5 Abs. 3, 4 EMRK. Wegen des fehlenden Akteneinsichtsrechts des Beschuldigten ist der unverteidigte Beschuldigte nicht im erforderlichen Umfang am Verfahren beteiligt. Das Verfahren verstößt daher gegen den Grundsatz der Waffengleichheit.[15] Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Ebenfalls von eher untergeordneter Bedeutung sind die in § 140 Abs. 1 Nr. 6-8 StPO geregelten Fälle der notwendigen Verteidigung, nämlich die Unterbringung zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten, das Sicherungsverfahren und der Verteidigerausschluss gem. §§ 138a ff. StPO.
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Von zunehmender Bedeutung ist der Fall, dass dem Verletzten nach den §§ 397a, 406h Abs. 3, 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist, § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO.
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Einen neuen Beiordnungsgrund enthält nunmehr § 141 Abs. 3 S. 4 StPO. Danach bestellt das Gericht, bei dem eine richterliche Vernehmung durchzuführen ist, dem Beschuldigten einen Verteidiger, wenn dies die Staatsanwaltschaft beantragt oder wenn die Mitwirkung eines Verteidigers aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint.[16]
b) Die notwendige Verteidigung nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO
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Die Generalklausel greift ein, wenn nicht bereits ein Katalogfall gem. § 140 Abs. 1 StPO vorliegt. Da alle erstinstanzlich bei dem Oberlandes- und dem Landgericht anhängigen Strafsachen bereits von § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO und die Verfahren, in denen der Vorwurf eines Verbrechens erhoben wird, bereits von Abs. 1 Nr. 2 der Vorschrift erfasst werden, beschränkt sich ihr Anwendungsbereich auf alle in erster Instanz bei dem Amtsgericht anhängigen Verfahren, in denen Vergehen angeklagt sind sowie auf die solche Verfahren betreffenden Berufungssachen. Für alle nicht von § 140 Abs. 1 StPO und sonstigen speziellen Vorschriften[17] erfassten Fälle dient § 140 Abs. 2 StPO als Auffangtatbestand.[18]
aa) Die Schwere der Tat
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Die Schwere der Tat ergibt sich aus der Höhe der zu erwartenden Strafe oder der Schwere der Maßregel oder den sonstigen Auswirkungen der verhängten Sanktionen auf das Leben des Angeklagten.[19] Entscheidend ist eine wertende Gesamtbetrachtung aller vom Tatrichter zu verhängenden Sanktionen. Dabei sind auch außerstrafrechtliche Nebenfolgen zu berücksichtigen, z.B. der drohende Verlust von Beamtenrechten, der Approbation als Arzt, Zahnarzt oder Apotheker, der Ausschluss aus der Rechtsanwaltschaft, die Ausweisung eines Ausländers.[20]
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In der Rechtsprechung wird überwiegend angenommen, dass bei einer Freiheitsstrafe von etwa einem Jahr mit oder ohne Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist.[21] Beulke vertritt die Auffassung, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung wegen der Schwere der Tat immer bereits dann vorliegt, wenn überhaupt die Verhängung von Freiheitsstrafe zu erwarten ist.[22]
Dem ist zu folgen. Die Verbüßung von Freiheitsstrafe ist immer ein gravierender Einschnitt in das Leben des Betroffenen und seiner Angehörigen. Eine solche Strafe sollte daher aus rechtsstaatlichen Gründen nur in einem Verfahren verhängt werden, in dem durch die Bestellung eines Verteidigers die Waffengleichheit wenigstens in einem bescheidenen Umfang hergestellt ist. Ohne Belang ist dabei, ob die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Der Widerruf der Aussetzung ist schließlich theoretisch nie auszuschließen.