2. Irrelevante Normenkomplexe
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Irrelevant ist unter dem Gesichtspunkt der Eigenständigkeit der Verfassungsräume des Bundes und der Länder ein Vorbringen des Beschwerdeführers, welches sich auf Normen des Landesverfassungsrechts bezieht. Ohne Bedeutung für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sind auch die Bestimmungen ausländischer Staaten.[8]
3. Sonderproblem EMRK-Verstöße und Verstöße gegen sonstiges Europa- und Völkerrecht
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Häufig wird in Karlsruhe eine Verletzung der Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gerügt, nicht selten wohl auch mit Blick auf die Subsidiarität der EMRK- gegenüber der Verfassungsbeschwerde. Im Laufe der Zeit wurde aus dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Regeln der EMRK (Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK) insbesondere der besondere Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung entwickelt, welcher im Strafverfahren trotz der besonderen Rechtsschutzmöglichkeit des § 199 GVG weiterhin besondere Bedeutung hat, weil er rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen verhindern soll.[9] Auch diese Normen spielten jedoch grds. lange Zeit keine Rolle. Das Gericht hatte die Frage der Rügbarkeit von EMRK-Rechten in einer älteren Entscheidung zunächst noch offen gelassen,[10] dann aber – mit Ausnahme der Willkürkontrolle[11] – endgültig verneint.[12] Das überzeugt nur als Grundsatz. Der EMRK kommt in der deutschen Rechtsordnung zwar seit je der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu; sie ist dessen ungeachtet bei der Interpretation des nationalen Rechts – und damit auch der Grundrechte – im Sinne einer Völkerrechtsfreundlichkeit der mit den traditionellen Auslegungsmethoden erzielbaren Ergebnisse zu berücksichtigen. Die Behörden und Gerichte sind daher im Rahmen ihrer allgemeinen Gesetzesbindung aus Art. 20 Abs. 3 GG auch der EMRK unterworfen. Es ist daher seit dem Fall Görgülü[13] geboten, dem Beschwerdeführer im Einzelfall die Rüge eines Verstoßes gegen diese Berücksichtigungspflicht als Verstoß gegen das in seinem Schutzbereich berührte Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip zu gestatten. Dazu tritt seit der Entscheidung Sicherungsverwahrung II die Option, Verfassungsbeschwerde auch in einer res iudicata einzulegen, wenn mittlerweile neue Rechtsprechung des EGMR vorliegt, die konkret zu anderen Ergebnissen führen würde.[14] Zuletzt kann der Beschwerdeführer für den Fall, dass eine als Eingriffsgrundlage dienende Vorschrift des Bundesrechts im Widerspruch zu einer allgemeinen Regel des Völkerrechts steht und von dieser verdrängt wird, seine Verfassungsbeschwerde grds. auf die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 25 GG stützen.[15]
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Die Rüge von europäischen Grundrechten der GRCh kann demgegenüber nicht mit Erfolg im Verfahren der deutschen Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden.[16]
4. „Spezifisches Verfassungsrecht“ und erweiterte Prüfungskompetenzen im Einzelfall
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Das BVerfG kleidet das Erfordernis der Grundrechtsverletzung für jedes prinzipiell rügefähige Grundrecht dann in die Formel von der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.[17] Häufig wird dies gerade bei Eingaben aus dem strafrechtlichen Bereich verkannt. Bei der Beurteilung des Sachverhalts kann sich der Verteidiger im ersten Zugriff grob an den im strafrechtlichen Revisionsverfahren gültigen Maßstäben orientieren. Ähnlich wie im Verfassungsprozessrecht folgt auch dort aus der grundlegenden prozessualen Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen Revisions- und Tatgericht, dass die Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts auf die Vertretbarkeit, nicht unbedingt die Richtigkeit der Ausgangsentscheidung beschränkt ist.[18] Das Revisionsgericht kann nicht die Tatsachenfeststellungen der Ausgangsgerichte und die Überzeugungsbildung des Richters überprüfen, geschweige denn durch eigene Feststellungen ersetzen. Eine neue Beweisaufnahme findet – mit wenigen Ausnahmen – nicht statt. Dies alles gilt auch – und erst recht – für das Verfahren vor dem BVerfG.
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Im Einzelnen folgt daraus: Bei Verfassungsbeschwerden gegen die Entscheidung eines Strafgerichts ist spezifisches Verfassungsrecht nur dann verletzt, wenn das (Fach-)Gericht die Einschlägigkeit eines Grundrecht gar nicht erkannt oder zwar erkannt, aber in seiner Bedeutung und Tragweite grds. verkannt hat und die Entscheidung auf diesem Mangel beruht.
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Über das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG hebt das Gericht im Einzelfall jedoch auch einfachrechtliche Verstöße auf die Ebene des Verfassungsrechts. Es nimmt an, dass eine Gesetzesanwendung und -auslegung, die an sich die Marge des Verfassungsrechts nicht erreicht, dann verfassungswidrig sein kann, wenn die fehlerhafte Anwendung des einfachen Rechts bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht.[19] Dies entspricht wiederum u. a. der Praxis der Revisionsgerichte zu überprüfen, ob die Feststellungen der Ausgangsgerichte überhaupt eine tragfähige Grundlage für die Anwendung des materiellen Rechts bieten.[20] Feststellungen und Beweiswürdigung verstoßen demnach bekanntlich auch dann gegen sachliches Recht, wenn sie in sich widersprüchlich, lückenhaft oder unklar sind oder allgemeinen Denkgesetzen und Erfahrungssätze zuwiderlaufen. In jüngerer Zeit haben die Kammern mit diesem Instrument mit mehreren begrifflich überzogenen Beschlüssen insbesondere der Beachtung der Senatsmaßgaben zur Anwendung des Verständigungsgesetzes gegenüber dem BGH zur Durchsetzung verholfen, weil der sog. verfassungsorientierten Auslegung der Senatsjudikatur in BVerfGE 133, 168 keine Bindungswirkung zukommt. Das hat berechtigte Kritik auf sich gezogen.[21]
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Auch im Übrigen hat das Gericht seine Prüfungskompetenzen in zumindest drei Dimensionen beständig erweitert:
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• | Zunächst stellte die extensive Auslegung von Grundrechten wie Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht im Sinne der Elfes– und Reiten im Walde-Doktrin[22] eine Richtungsentscheidung dar. Sie ermöglicht im Einzelfall den prinzipiellen verfassungsrechtlichen Zugriff auf alle vom Recht durchdrungenen Lebensbereiche. Der aus den materiellen Grundrechten in Verbindung mit dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) hergeleitete Anspruch auf ein faires Verfahren stellt einen in diesem Sinne jedenfalls von den Beschwerdeführern besonders im strafrechtlichen Verfassungsbeschwerdeverfahren gern und häufig in Anspruch genommenen allgemeinen – und vagen[23] – Prozessgrundsatz dar, welcher normativ zwischen den Ebenen des einfachen und des Verfassungsrechts einzuordnen ist. Übersehen wird dabei häufig, dass der Weite des Schutzbereichs die Weite der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG entspricht, so dass insbesondere die vielgestaltigen Emanationen der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege das Grundprinzip in seine Schranken zu verweisen vermögen.[24] |
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Augenscheinlich nähert sich das BVerfG der Anwendung einfachens Recht insbesondere dort an, wo es um die Verletzung des Grundrechts der allgemeinen Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG im Kontext strafrechtlicher Verfassungsbeschwerden
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