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Dagegen wird eingewandt, dass eine zu verletztenfreundliche Haltung des Gesetzgebers die Gefahr einer „Entmachtung des rechtsstaatlich reagierenden Staates“ heraufbeschwöre. Der staatliche Strafanspruch sei gerade dadurch gekennzeichnet, dass er das subjektive Recht des Verletzten auf Bestrafung objektiviere. Im Strafverfahren solle vornehmlich rationale Konfliktverarbeitung stattfinden, wobei der Einfluss des oft von Wut und Rachegedanken gesteuerten Verletzten nicht dienlich sei. Eine Aufwertung der Verletztenstellung könne zu einer Wiederbelebung von irrationalem Vergeltungsdenken führen. Eine Berücksichtigung der Interessen des Verletzten könne und müsse außerhalb und unabhängig vom Strafprozess erfolgen. Gerade aus Sicht von Strafverteidigern drohe zudem durch noch weitergehende Opferschutzregelungen die völlige Aushöhlung der Unschuldsvermutung.[4]
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Als fraglich gilt daher, ob die zwischenzeitlich dem Verletzten gewährten Rechte noch mit denen des Beschuldigten in Einklang zu bringen sind. Der „Gesamtschutzstatus“ des Beschuldigten sei im Grundsatz zu erhalten, was aber nicht bedeute, dass der rechtsstaatlich gebotene Einfluss des Beschuldigten auf den Strafprozess eine statische Größe darstelle.[5] Jede Vergünstigung für den Verletzten bedeutet zwangsläufig, dass die im Strafprozess geltende Unschuldsvermutung zu Lasten des Beschuldigten weiter zurückgedrängt wird. So kann die Wahrheitsfindung etwa auch dadurch beeinträchtigt werden, dass das Verfahren zu sehr beschleunigt wird, nur um dem Verletzten so weit wie möglich eine neuerliche Konfrontation mit dem Erlebten und dem mutmaßlichen Täter zu ersparen. Andererseits bedingt die Subjektstellung des Beschuldigten, dass dieser in ausreichendem Maße die Möglichkeit haben muss, auf den gegen ihn gerichteten Strafprozess Einfluss zu nehmen. Hierzu gehört bspw. auch das Recht, den Verletztenzeugen selbst und direkt zu befragen. Noch weiter reichende Einschränkungen, wie das Verlesen von Zeugenaussagen reiche oft nicht zur Wahrung der Beschuldigtenrechte. Der Ausbau der Rechtsstellung des Verletzten als Prozesssubjekt beeinträchtigt auch seine Zeugenfunktion und damit seine Rolle für die prozessuale Wahrheitsfindung in besonderer Weise.
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Nicht voraussehbar ist derzeit, ob und wann sich der Gesetzgeber zukünftig von den kritischen, die Beschuldigtenrechte verteidigenden Stimmen leiten lassen, oder ob er die Beteiligung des Verletzten und die vorrangige Berücksichtigung seiner Interessen im Strafprozess noch weiter ausbauen wird. Möglicherweise könnte sich der Gesetzgeber aber auch dazu entschließen, dem Verletzten außerhalb des Strafverfahrens die ihm gebührende Stellung in einem förmlichen Verfahren zu gewährleisten, ihm die erforderliche Aufmerksamkeit und den nötigen Respekt entgegenzubringen und ihm schließlich ausreichende prozessuale Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, um seine durch Straftaten entstandenen Ansprüche auch tatsächlich durchsetzen zu können, ohne im Strafverfahren noch tiefgreifende Einschnitte in die Beschuldigtenrechte vorzunehmen zu müssen.
Der Umgang der Rechtsgemeinschaft mit dem von einer Straftat Verletzten ist von großer Bedeutung – sowohl für die Eigenwahrnehmung des Betroffenen als auch für dessen Einstellung zur Rechtsordnung. Zudem hat es auch mittelbare Auswirkungen, nämlich auf das soziale Umfeld des Verletzten, die einerseits ihn, seine tatsächlichen Beeinträchtigungen und auch sein Bemühen um Rückkehr zur Normalität sowie andererseits den staatlichen Umgang und die Fürsorge um den Betroffenen kennen und einzuschätzen wissen. Wird der Verletzte von der Rechtsordnung und ihren Organen alleingelassen oder nicht mit dem ihm gebührenden Gewicht und Respekt behandelt, hat dies nicht nur prägende Auswirkungen auf die Einstellung des Verletzten, sondern auch auf diejenigen Personen in seinem Umfeld, denen – aus nächster Nähe – das Leid, aber auch die Enttäuschung des Verletzten über die gesellschaftliche Aufarbeitung des ihm widerfahrenden Unrechts bekannt sind. Dabei ist sicherlich zu sehen, dass der Verletzte mit seinem Wunsch nach Genugtuung und seinem Verlangen nach Wiedererlangung des früheren „status quo“ lange Zeit allein blieb. Die zwischenzeitlich eingetretene Hinwendung zum Verletzten stellt aber einen gesellschaftlichen Wandel in Form der gleichzeitigen Abkehr vom Täter dar. Erst in den letzten Jahren wird dem Verletzten besondere Aufmerksamkeit, Empathie und soziale Anerkennung aufgrund seines Verletztenstatus zuteil. Ohne Zweifel war nämlich der verfahrensrechtliche Wandel in den vergangenen Jahrzehnten vom früheren rein passiven Tatzeugen zum nunmehr aktiv Mitwirkenden überfällig, da der Gedanke naheliegend ist, dass Kriminalitätsopfer in der Regel ein Interesse dahingehend haben, nach der Tat die Orientierung im sozialen Leben wiederzugewinnen. Dies kommt einem eigenständigen Strafzweck gleich, denn mit der Bestrafung soll die Normgeltung nicht nur gegenüber der Allgemeinheit, sondern auch – und gerade – gegenüber dem Verletzten und seinem Umfeld demonstriert werden. Wenn aber die verletzte Strafrechtsnorm nicht nur die Gesellschaft als solches schützen soll, sondern ihr auch eine Schutzfunktion gegenüber dem einzelnen Verletzten innewohnt, so ergibt sich hieraus fast zwangsläufig, dass die Interessen des Verletzten nicht nur am Ende des Strafverfahrens bei der Verhängung und Bemessung der Strafe, sondern im gesamten Strafprozess berücksichtigt werden müssen, indem das strafrechtliche Kontrollsystem seine Schutzaufgabe wahrnimmt. Ohne die Berücksichtigung der Verletzteninteressen kann der Rechtsfrieden letztendlich nicht wiederhergestellt werden.
Die Gesellschaft muss auf die Einhaltung wesentlicher rechtstaatlicher Grundsätze achten. Dabei hat sie dem Verletzten zu helfen, soweit wie möglich seine persönlichen Beeinträchtigungen abzubauen und die Rückkehr zur Normalität zu finden, auch was sein Umfeld betrifft. Ohne die Berücksichtigung der Verletzteninteressen kann der Rechtsfrieden letztendlich nicht wiederhergestellt werden. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Belange des Verletzten und die rechtstaatlichen Grundsätze im Strafverfahren aufgrund der dortigen Täterzentrierung in einem besonderen Spannungsverhältnis stehen. Hier hat aus rechtstaatlichen Gründen ausschließlich der Angeklagte im Fokus zu stehen, da es im Strafverfahren allein um die Feststellung und Aushandlung seiner Verantwortlichkeit für das Tatunrecht geht[6].
Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Verletzteneigenschaft als rechtspolitische Begründung von Teilhabe- und Mitwirkungsrechten im Strafprozess nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommen kann, da solche nur gegenüber dem Täter bestehen können, dieser jedoch wiederum erst ab rechtskräftiger Verurteilung feststeht[7], besteht hinreichender Anlass, unter anderen Aspekten über den staatlichen Umgang mit dem von einer Straftat Betroffenen außerhalb des Strafverfahrens nachzudenken und nach neuen Lösungsansätzen zu suchen.[8]
Gerade der unumstößliche Grundpfeiler im Strafprozessrecht, nämlich die zu Gunsten des Angeklagten streitende Unschuldsvermutung, zwingt dazu, über die mögliche Stellung von Geschädigten in einem justizförmigen Verfahren nachzudenken. Zweifelsohne muss es als gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung gesehen werden, Opfern von Straftaten, insbesondere Gewalt- und Sexualstraftaten, helfend zur Seite zu stehen. Dabei ist sicherlich nicht ausreichend, den Täter nur seiner gerechten Strafe zuzuführen. Die von einer Straftat betroffenen Personen bedürften besonderer Fürsorge, die zu leisten Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist. Das staatliche Gewaltmonopol findet nur dann seine Rechtfertigung, wenn und solange der Staat effizient in die Regelung von Konflikten der Bürger untereinander eintritt. Diese Aufgabe zur Konfliktlösung bedeutet indes nicht, dass der Verletzte einen Anspruch darauf hat, gerade im Strafprozess an der Konfliktregelung bzw. –beilegung beteiligt werden zu müssen. Umso verwunderlicher ist es, dass sich bislang die Gesetzgebung im Wesentlichen allein auf die Stärkung von Verletztenrechten im Strafverfahren konzentriert hat. Dies hat quasi zwangsläufig zur Konsequenz, dass einem Verletzten naturgemäß nur dann Rechte zugestanden werden können, wenn man bereit ist, bereits zu Beginn des Verfahrens diese Verletzteneigenschaft als tatsächlich gegeben anzuerkennen. Gerade dies führt aber zu dem unlösbaren Konflikt mit der bereits oben angeführten Unschuldsvermutung. Vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens steht einem hinreichenden „Tat- bzw. Täterverdacht“ bei Anklageerhebung gewissermaßen ein hinreichender „Opfer- bzw. Verletztenverdacht“ gegenüber[9]. Da das Prinzip der