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Ein besonders anschauliches Beispiel der strafrechtsgestaltenden Kraft des Strafprozessrechts bildet schließlich die Strafvereitelung nach § 258 Abs. 1 StGB: Die Abgrenzung, wann zulässige oder gar gebotene Strafverteidigung und wann unzulässige Strafvereitelung vorliegt, muss letztlich danach getroffen werden, welche Befugnisse ein Strafverteidiger prozessual hat. Insoweit ist § 258 StGB gleichsam strafprozessrechtsakzessorisch auszulegen und es spricht überdies viel dafür, dass (zumindest bei bloß fehlerhaften Prozesshandlungen, die aber noch innerhalb der strafprozessualen „Phänotypik“ liegen) auch das prozessrechtliche Reaktionsarsenal (Zurückweisung eines Antrags als unzulässig bzw. unbegründet; gegebenenfalls Einschränkung von strafprozessualen Befugnissen für die Zukunft) vorrangig ist und nicht sofort mit der Strafnorm des § 258 StGB reagiert werden sollte.
3. Primat des Strafprozessrechts in der Praxis?
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In der praktischen strafrechtlichen Arbeit dürfte es einer spontanen Intuition (und damit auch einer verbreiteten Vorstellung) entsprechen, dass dem Strafprozessrecht – anders als etwa in der universitären Ausbildung – ein ganz klarer Vorrang gegenüber dem materiellen Strafrecht zukommt. Das könnte selbst für die Gerichte gelten (die letztlich eine begrenzte Zeit auf die Subsumtion des – nach den Regeln des Prozessrechts – festgestellten Sachverhalts unter das materielle Strafrecht verwenden, während sie in der Hauptverhandlung vor allem durch gesicherte strafprozessuale Kenntnisse versuchen müssen, die „Lufthoheit“ zu wahren), ganz besonders aber für die Strafverteidiger. Sie können mit Blick auf das materielle Strafrecht zumindest theoretisch darauf vertrauen, dass dieses von Gericht und Staatsanwaltschaft zutreffend und objektiv auf den festgestellten Sachverhalt angewendet wird, während die (ohnehin vielfach begrenzten) „Gestaltungsmöglichkeiten“ der Verteidigung insbesondere in der Hauptverhandlung vorrangig strafprozessuale Felder (z.B. Beweisanträge, Ablehnungsanträge, erforderliche Widersprüche und Zwischenrechtsbehelfe etc.) betreffen.
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Insoweit ist dieser Eindruck zwar richtig. Aber selbst in einem prozessualen Band eines Handbuchs zum Strafrecht soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass auch die Bedeutung des materiellen Strafrechts und seiner Kenntnis (und zwar insbesondere auch für die Verteidigung) nicht unterschätzt werden darf. Materiell-rechtliche Fragen stellen sich nämlich nicht nur in praktisch jedem Verfahrensstadium beginnend beim Ermittlungsverfahren (in welchem etwa Zwangsmaßnahmen nur angeordnet werden dürfen, wenn nicht nur der Verdacht eines bestimmten Verhaltens besteht, sondern dieses Verhalten auch einen Straftatbestand darstellt) über die Frage nach Anklageerhebung (oder aber eben nicht) und das Urteil (Verurteilung oder Freispruch) bis zur Revision, in welcher die Verletzung sachlichen Rechts zwar keiner so elaborierten Begründung bedarf wie die Erhebung einer Verfahrensrüge (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO), von einer qualitätsvollen Revision aber dennoch in einer Weise geleistet werden wird, welche das Revisionsgericht zum Nachdenken anregt.
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In all diesen und auch anderen Situationen ist es auch für einen Strafverteidiger in der Praxis wichtig, das materielle Recht zu kennen. Ihm kommt insoweit eine „Kontrollfunktion“ zu, da sich selbstverständlich auch Richter einmal irren können.[133] Auch gibt es schlicht Grenzfälle, in denen die gesetzliche Lösung nicht klar vorgegeben ist und Gerichte durchaus unterschiedlich judizieren.[134] Zuletzt ermöglichen auch nur gute Kenntnisse im materiellen Recht und vor allem auch ein überzeugendes Argumentationsvermögen in diesem Bereich, bei einem Richter auch an Entscheidungen, die er letztlich so trifft/treffen würde, wie er sie eben trifft bzw. treffen zu müssen meint, Zweifel in rechtlicher Hinsicht zu schüren. Diese können dann zwar nicht in der Entscheidung über die Tat- und Schuldfrage, wohl aber bei den Rechtsfolgen durchschlagen, sei es in Gestalt einer gemilderten Strafe, sei es (obwohl der Schuldspruch natürlich nicht verständigbar ist, vgl. § 257c Abs. 2 S. 3 StPO) im Rahmen einer Verständigung oder sei es als Motivation für eine Einstellung nach § 153a StPO.
1. Die ordentliche Gerichtsbarkeit als gemeinsamer Rahmen
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Bereits äußerlich-organisatorisch werden das Strafprozessrecht und das Zivilprozessrecht ungeachtet ihrer konzeptionellen Unterschiede durch ein gegenseitiges Näheverhältnis geprägt, da Straf- und Zivilgerichtsbarkeit die beiden Zweige der sogenannten ordentlichen Gerichtsbarkeit (auch mit einem gemeinsamen Bundesobergericht in Gestalt des Bundesgerichtshofs) darstellen. Personell setzt sich dies darin fort, dass – mit Unterschieden in den einzelnen Bundesländern – Richter im Verlauf ihres Dienstlebens zwischen der Zivil- und der Strafgerichtsbarkeit sowie teilweise auch der Staatsanwaltschaft hin- und herwechseln. Auch sind für Strafverfahren und bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten die gleichen Gerichte – wenngleich mit verschiedenen Spruchkörpern – zuständig: Es sind dies das Amtsgericht (zu den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten dort vgl. §§ 23 ff. GVG; zur Zuständigkeit in Strafsachen vgl. §§ 24 ff. GVG), die Landgerichte (zur Zuständigkeit der Zivilkammern vgl. §§ 71 ff. GVG; zur Zuständigkeit der Strafkammern vgl. §§ 74 ff. GVG), die Oberlandesgerichte (zur Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vgl. §§ 118 ff. GVG; zur Zuständigkeit in Strafsachen vgl. §§ 120 ff. GVG) sowie der soeben bereits erwähnte Bundesgerichtshof.
2. Weitere Gemeinsamkeiten
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Neben dieser gemeinsamen justiz-organisatorischen Behandlung gibt es – jedenfalls theoretisch – zwischen Zivil- und Strafverfahren auch große Gemeinsamkeiten in den Verfahrensabläufen, die durch für beide Verfahrensarten gemeinsam aufgestellte Regeln im GVG entstehen. Es sind dies z.B. die Vorschriften über die Öffentlichkeit (§§ 169 ff. GVG), über die Gerichtssprache und die Dolmetscher (§§ 184 ff. GVG), über die Beratung und Abstimmung (§§ 192 ff. GVG, für das Strafverfahren freilich durch § 263 StPO modifiziert) sowie – seit einigen Jahren – über den Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG). Freilich ist insoweit einzuräumen, dass hier etwa auch das verwaltungsgerichtliche Verfahren durch seine §§ 54 (Verweis auf die ZPO für die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen), 55 (weitgehender Verweis auf das GVG hinsichtlich Öffentlichkeit, Sitzungspolizei, Gerichtssprache sowie Beratung und Abstimmung) und 173 VwGO (entsprechende Anwendbarkeit von GVG und ZPO zur Schließung etwaiger Lücken, „wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen“) vielfach zu einer Angleichung führt, auch ohne dass das GVG unmittelbar gelten würde.
3. Unterschiede bei den Prozessmaximen
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Trotz der damit vorliegenden Identität hinsichtlich einer Reihe formaler Gestaltungen unterscheiden sich Zivil- und Strafprozess in ihrer Struktur (klassischer Parteiprozess versus moderner Inquisitionsprozess) und ihres Ablaufes sehr deutlich. Letztlich spiegelt sich dies nicht zuletzt in den unterschiedlichen Prozessmaximen wider: Während im Zivilprozess nach der Dispositionsmaxime die Parteien über Beginn, Gegenstand und Ende des Verfahrens bestimmen, gilt für das Strafverfahren die Offizialmaxime, wonach öffentliche Stellen von Amts wegen tätig werden. Dabei gelten im Zivilverfahren Verhandlungs- und Beibringungsgrundsatz, wonach nur solche Tatsachen berücksichtigt werden dürfen, die von