1. Das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht
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Der Strafprozess stellt zwar für die meisten Bürger den intensivsten und den eigentlich „erfahrbaren“ Kontakt mit der Strafrechtspflege dar; innerhalb dieser Beziehung steht er allerdings nicht alleine, sondern ist stets im Zusammenhang mit dem materiellen Strafrecht zu sehen. Zur Frage, wie dieses Verhältnis beschaffen ist, findet sich in der allgemeinen Prozessrechtslehre ein breites Spektrum von denkbaren Antworten: Dabei verdient im Ausgangspunkt durchaus der Gedanke einer „integrierenden Behandlung“ Beifall, der angesichts der Unschärfe des Rechts[127] und der Fortentwicklung der Rechtsprechung davon ausgeht, dass der Prozess nicht dazu dient, nur ein „von vornherein feststehendes, materielles (sc. Recht) (. . .) zu verwirklichen“, sondern dass im Prozess erst „das Recht – das subjektive und das objektive Recht bestimmt wird: Das Recht, das ohne den Prozess und das Urteil unbestimmt und nur subjektiv (in verschiedener Weise) bewusst und damit objektiv (allgemein) unbewusst bleiben würde.“[128]
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Freilich muss dieser Ansatz eingeschränkt werden: Denn bei aller Bedeutung der Dynamik des Verfahrens etwa für die Entscheidung von – im Prozess aufgeworfenen – Bedeutungskonflikten bleibt die methodengeleitete Arbeit am Gesetzestext als Überprüfungskriterium, weswegen auch ein Urteil, das die methodischen Vorgaben nicht einhält, durchaus als falsch bzw. „nicht Recht“ beurteilt werden kann. Wie Volk zutreffend formuliert, ist der „konkrete Rechtssatz, dessen der Richter zu Entscheidung bedarf, (. . .) nicht schon dadurch legitimiert, daß er konkret ist. Die Konkretisierung muß ‚richtig‘ sein“.[129] Dass das Verfahren gleichwohl legitimatorische Wirkung haben kann,[130] steht ebenso außer Frage, wie der Umstand, dass ein Prozessausgang auch unabhängig vom materiellen Recht im Detail eine befriedende Wirkung haben kann. Insoweit haben auch andere prozesstheoretische Modelle durchaus ihre Berechtigung. Normative Zielvorgaben für den Strafprozess erlauben also weder ein System der vollständigen Verschmelzung noch der rigorosen Trennung zwischen Prozess und materiellem Recht. Strafprozessrecht und materielles Recht sind vielmehr als zwar eigenständige, aber zusammenwirkende Rechtsmaterien zu betrachten, wobei das Prozessrecht insbesondere den Geltungsanspruch des materiellen Rechts unterstützen muss, was das oben stark gemacht Prozessziel der Durchsetzung des materiellen Strafrechts noch einmal bestätigt.
a) Grenzbereiche
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In den meisten Fällen ist die Abgrenzung, ob es sich bei einer Vorschrift um eine Regel des materiellen Strafrechts oder des Strafverfahrensrechts handelt, relativ klar und deckt sich im Wesentlichen mit der Aufteilung in Vorschriften des StGB und solche der StPO. Es gibt aber einige Regelungen, die an der Schnittstelle zwischen formellem und materiellem Recht liegen bzw. für beide Felder Bedeutung haben. Dies sind zum einen die strafprozessualen Befugnisnormen für Zwangsmaßnahmen, welche materiell-rechtlich zugleich Rechtfertigungsgründe für bestimmte Eingriffe darstellen. Dies liegt am Wesen der materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungslehre, welche mit Blick auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und den für das materielle Strafrecht geltenden ultima ratio-Grundsatz davon ausgeht, dass Erlaubnisnormen aus anderen Rechtsbereichen immer auch rechtfertigend wirken: Was zivilrechtlich, polizeirechtlich oder aber eben auch strafprozessrechtlich erlaubt ist, kann materiell-rechtlich nicht zu einer Strafbarkeit führen. Eine Sonderrolle nimmt insoweit § 127 Abs. 1 StPO ein, da dieser nicht nur eine Befugnisnorm für die Strafverfolgungsbehörden, sondern eine Jedermannsbefugnis in Gestalt eines Festnahmerechts beim Ertappen auf frischer Tat enthält. Damit handelt es sich ausnahmsweise um einen strafprozessualen Rechtfertigungsgrund, auf den sich auch jeder Bürger berufen kann.
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Zum anderen sind im StGB Rechtsinstitute geregelt, die nicht mehr die Frage nach der Strafbarkeit und damit nach der Bewertung eines Verhaltens als tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft betreffen, sondern schon mehr mit der Verfolgbarkeit zu tun haben. Besonders deutlich ist dies bei den Regelungen über die Verjährung (§§ 78 ff. StGB) und über die Strafantragserfordernisse (allgemein geregelt in §§ 77 ff. StGB, als Strafantragserfordernis im Besonderen Teil etwa in § 123 Abs. 2, 230, 248a, 247, 303c StGB festgeschrieben). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung bzw. das Fehlen eines Strafantrags führt dann im Strafverfahren auch nicht (wie das Fehlen der Tatbestandsmäßigkeit oder das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes) zu einem Freispruch, sondern stellt ein Verfahrenshindernis (bzw. eine fehlende Prozessvoraussetzung) dar. Dieses ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen und führt grundsätzlich zu einer Einstellung des Verfahrens.[131]
b) Einfluss des materiellen Rechts auf das Prozessrecht
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Das materielle Strafrecht ist der zentrale rechtliche Prüfungsgegenstand des Strafverfahrens und hat in diesem Sinne selbstverständlich großen Einfluss darauf. Spezifische materiell-rechtliche Kategorien spielen für das Strafverfahren nur teilweise eine Rolle, denn im Grundsatz läuft das Strafverfahren unabhängig davon ab, hinsichtlich welcher Straftat ein Tatverdacht besteht bzw. eine Anklage erhoben ist. An einzelnen Stellen gibt es aber doch entsprechende Bezüge: So ist für einzelne strafprozessuale Zwangsmaßnahmen von Bedeutung, ob es sich bei der verfolgten Tat um ein Verbrechen (i.S.d. § 12 Abs. 1 StGB) handelt oder nicht. Demgegenüber spielt etwa aus dem Allgemeinen Teil des Strafrechts die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme regelmäßig keine Rolle, da insbesondere bei den strafprozessualen Befugnisnormen nicht selten Täterschaft und Teilnahme explizit nebeneinander genannt werden (vgl. etwa § 100a Abs. 1 Nr. 1 StPO: „jemand als Täter oder Teilnehmer“) bzw. in anderen Fällen gar keine Nennung erfahren, so dass ebenfalls davon ausgegangen werden kann, dass die Verfahren gegen den Täter und Teilnehmer im Prinzip identisch laufen. Gleiches gilt jedenfalls grundsätzlich auch für die Verfolgung von vollendeten oder nur versuchten Taten (vgl. nochmals § 100a Abs. 1 Nr. 1 StPO: „Straftat begangen, in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht“).
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Ebenfalls insbesondere bei bestimmten Zwangsmaßnahmen, welche mit einem System von „Katalogtaten“ arbeiten (vgl. z.B. §§ 100a, 100b oder 100c StPO), kommt es dann doch darauf an, hinsichtlich welcher Delikte im konkreten Fall Ermittlungen angestellt werden. Die für die Einzelstraftatbestände des Besonderen Teils vorgesehenen Strafrahmen – sei es als Obergrenzen für die verhängbare Strafe, sei es als zumindest wichtiger erster Schritt in die Strafzumessung – spielen außerdem für die sachliche Zuständigkeit erster Instanz eine wichtige Rolle (vgl. § 24 und § 74 GVG); für Sonderzuständigkeiten etwa des Schwurgerichts oder der Wirtschaftsstrafkammer kommt es dann auch noch einmal auf die konkret vorgeworfenen Taten an (vgl. § 74 Abs. 2 GVG sowie § 74c GVG).
c) Strafrechtsgestaltende Kraft des Prozessrechts
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Der Zusammenhang zwischen materiellem Recht und Strafverfahren dahingehend, dass Ersteres der Gegenstand des Zweiteren ist, liegt auf der Hand. Abhängigkeiten bestehen aber auch in der umgekehrten Richtung dahingehend, dass das Strafprozessrecht den Inhalt bzw. die Auslegung des materiellen Strafrechts maßgeblich beeinflusst. Dies ist leicht einsehbar, wo die materiell-rechtlichen Straftatbestände hinsichtlich ihrer Merkmale unmittelbar auf prozessuale Positionen bzw. Gegebenheiten abstellen, wie dies etwa bei den Aussagedelikten der Fall ist: Wer Zeuge ist, wann ein Gericht