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Diese verschiedenen Ziele können nun in unterschiedlichem Verhältnis zueinanderstehen, je nachdem, ob sie in die gleiche Richtung weisen, sich gegenseitig Grenzen setzen oder in sonstiger Abhängigkeit zueinanderstehen: Soweit zwei festgestellte Zwecke in dieselbe Richtung weisen bzw. das Erreichen eines Ziels Voraussetzung für das Erreichen des nächsten ist, könnte man von „Zwischenzielen“ sprechen. Anschauliches Beispiel ist – wie bereits erwähnt – die Wahrheitsfindung im Strafprozess: Sie ist kein Selbstzweck, sondern jedenfalls grundsätzlich Voraussetzung für ein gerechtes Urteil und die Verwirklichung des materiellen Strafrechts (zumindest innerhalb des konkreten Prozesses). Für eine konkrete prozessrechtliche Argumentation bringen damit solche „Zwischenziele“ zwar keine grundsätzlich neuen bzw. zusätzlichen Erkenntnisse, können diese aber erleichtern, weil sich etwa bestimmte teleologische Fragen präziser fassen lassen: Ob eine bestimmte prozessuale Maßnahme mit Blick auf die „Verwirklichung des materiellen Strafrechts“ geboten ist, mag im Einzelfall weniger evident zu beantworten sein, als ob sie der Wahrheitsfindung dient. Nicht weniger bedeutsam ist aber, dass das Strafverfahren und insbesondere das Strafverfahrensrecht auch durch diverse Zielkonflikte gekennzeichnet ist:[39] Exemplarisch genannt seien (teils wiederholend, teils ergänzend) nur (Einzelfall-) Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, Wahrheitsermittlung und Persönlichkeitsrechtsschutz oder Wahrung der Verhältnismäßigkeit und Gleichheit der Rechtsanwendung.
C. Stellung des Strafprozessrechts im Gesamtgefüge der Rechtsordnung
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Die Stellung des Strafprozessrechts im Gesamtgefüge der Rechtsordnung vollständig zu beschreiben, wäre eine – zumal auf dem vorliegenden begrenzten Raum – unlösbare Aufgabe, da dazu erst einmal dieses Gesamtgefüge überblickt und skizziert werden müsste. Vielmehr muss sich eine solche Betrachtung auf wenige ausgewählte Bereiche der Rechtsordnung beschränken, deren Beziehungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Strafprozessrecht kurz dargetan werden können. Nahe liegen hier (notwendig letztlich willkürlich ausgewählt) Vergleiche mit dem bzw. Beziehungen zum
– | Verfassungsrecht (da das Strafprozessrecht als geradezu phänotypisches Eingriffsrecht als „Seismograph der Staatsverfassung“[40] gilt[41]), zum |
– | materiellen Strafrecht (da es um die materiellen und formellen Regelungen über den staatlichen Umgang mit solchen Taten geht, die als besonders gemeinschaftsschädlich erachtet werden) sowie zum |
– | Zivilprozessrecht (als der prozessualen Schwester-Materie innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die rechtshistorisch wichtige gemeinsame Wurzeln mit dem Strafverfahren hat). |
Ferner sollen einige Materien kurz angesprochen werden, die Ergänzungen bzw. Modifikationen zum strafprozessualen „Normalverfahren“ liefern.[42]
1. Bedeutung des Verfassungsrechts
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Nicht erst[43] unter der Geltung des Grundgesetzes wurde schon früh betont, dass das Strafprozessrecht „angewandtes Verfassungsrecht“[44] oder aber ein „Seismograph der Staatsverfassung“[45] sei. In eine ähnliche Richtung – allerdings mit eher kritischer Konnotation – geht es, wenn Arzt vom Strafprozessrecht als „Kolonie“ des Verfassungsrechts spricht.[46] All diese Metaphern belegen die besondere Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen – und zwar in verschiedenen Ausprägungen – für das Strafprozessrecht als einem Prototyp des staatlichen Eingriffsrechts mit besonders sicht- und greifbaren Grundrechtseingriffen.[47]
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Die Intensität dieser Diskussion und die starke verfassungsrechtliche Verankerung des Strafprozessrechts stärken vielfach die Beschuldigtenrechte, derer sich das BVerfG in zahlreichen Entscheidungen angenommen hat.[48] Die Wirkung ist aber durchaus ambivalent, da als ein mit verfassungsrechtlichen Weihen ausgestatteter Argumentationstopos umgekehrt auch die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ (vgl. näher unten Rn. 42) herangezogen wird, um Beschuldigtenrechte einzuschränken (bzw. zumindest um ihrer Erweiterung Grenzen zu ziehen). Auch erschweren die Auflösung der verfassungsrechtlichen Schranken in einfachgesetzliche Tatbestandsvoraussetzungen auf der einen und die vom Verfassungsrecht her in das Strafprozessrecht diffundierende Abwägungshypertrophie zum anderen die Rechtsanwendung.[49]
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Anknüpfungspunkte für verfassungsrechtliche Überlegungen können sich im Einzelnen ergeben mit Blick auf
– | die Grundrechte (und zwar sowohl auf die „materiellen“ Grundrechte der Art. 1 ff. GG, insb. im Ermittlungsverfahren bei eingriffsintensiven Ermittlungsbefugnissen, als auch auf die sog. Verfahrensgrundrechte), |
– | verfassungsrechtlich fundierte strafverfahrensrechtliche Prozessmaximen (welche auch in der Rechtsprechung nicht nur als Kondensat des Prozessrechts, sondern gleichsam als Zwischenebene zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht behandelt werden[50]), |
– | das Rechtsstaatsprinzip (dessen Ausprägungen den Grundrechtsschutz teils ergänzen, teils aber in Gestalt der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ auch Gegengewichte dazu bilden werden), |
– | den Gesetzesvorbehalt (als weniger materiell als vielmehr formell ausgestaltete Grenze, nach h.M. freilich nicht in Gestalt des speziellen strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts nach Art. 103 Abs. 2 GG, sondern „nur“ des allgemeinen Gesetzesvorbehalts für staatliche Grundrechtseingriffe) sowie auf |
– | Verfahren zur Wahrung der Verfassung (die über die schon mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG auch von den Fachgerichten im Prinzip vollumfängliche Pflicht zur Berücksichtigung der Grundrechte hinausgehen). |
2. Materielle Grundrechtsgarantien und Strafverfolgung
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Die „materiellen“ Grundrechte der Art. 1 ff. GG[51] sind insb. als Abwehrrechte gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen und daher vorrangig (aber nicht nur, vgl. etwa unten Rn. 30 und 31) im Ermittlungsverfahren von Bedeutung. Die Grundrechte schützen hier all die Lebensbereiche, in welche der Staat im Rahmen seiner Ermittlungstätigkeit einzugreifen gezwungen sein kann. Eine detaillierte Darstellung der grundrechtsorientierten oder gar verfassungskonformen Auslegung der Eingriffsnormen[52] würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Als besonders wichtige Grundsätze gewissermaßen aus der umgekehrten Perspektive – d.h. nicht von der Befugnisnorm, sondern vom Grundrecht her gedacht – erscheinen aber die Folgenden