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b) Als weitere zentrale Garantie stellt sich der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG dar. Die Bedeutung ergibt sich auch daraus, dass die Rüge seiner Verletzung bei erfolgreichen Verfassungsbeschwerden eine durchaus exponierte Position einnimmt bzw. eingenommen hat.[84] Die Garantie des rechtlichen Gehörs wird traditionell weit verstanden und mit gewissen „Vor- und Nachwirklungen“ neben dem eigentlichen Äußerungsrecht bedacht, so dass davon auch ein Anspruch auf Information als Grundlage einer effektiven Äußerung, ein Recht zur Äußerung selbst sowie ein Anspruch auf Beachtung der Äußerung geschützt ist[85] (auch wenn das BVerfG insb. mit Blick auf diesen letztgenannten Gesichtspunkt betont, dass Art. 103 Abs. 1 GG keinen „Anspruch auf ein Rechtsgespräch“ gewähre[86]). Vor dem Hintergrund dieses weiten Verständnisses der Vorschrift stellen etwa die §§ 226, 230, 239, 243 Abs. 4, 257 oder 258 StPO ebenso wie das Beweisantragsrecht oder das Dolmetschererfordernis des § 185 GVG Ausprägungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar.[87]
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Grenzen dieser (durch §§ 33, 33a, 311 und § 356a StPO auch einfachgesetzlich abgesicherten) Garantie ergeben sich zunächst daraus, dass insb. der Angeklagte nur die Möglichkeit haben muss, sich zu äußern, Entscheidungen aber auch getroffen werden können, wenn er sich dieser Möglichkeit mutwillig verschließt. Des Weiteren ergibt sich schon aus der Natur der Sache, dass bei zumindest vielen strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen eine vorherige Anhörung des Betroffenen nicht möglich ist, so dass die nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. nochmals § 33a StPO) ausreichend sein muss. Demgegenüber sind – insbesondere gesetzlich nicht vorgesehene[88] – Einschränkungen durch richterliche Anordnungen in der Hauptverhandlung zumindest problematisch und bedürfen einer genauen Überprüfung und Begründung.
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Gewisse Berührungspunkte und damit Abgrenzungsprobleme zum Anspruch auf rechtliches Gehör bestehen zur Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Da dieser grundsätzlich nur den Rechtsweg zum, nicht gegen den Richter eröffnet, ist er originär insb. dort von Bedeutung, wo auch im Strafprozessrecht – generell oder bei Gefahr im Verzug – belastende Maßnahmen durch nicht-richterliche Personen angeordnet werden dürfen. Freilich entnimmt das Verfassungsgericht der Vorschrift auch die Garantie, dass bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten durch den Bürger ausgenutzt werden können. Das kann etwa einen zu engen Begriff vom bestehenden Rechtsschutzbedürfnis verbieten[89] und Einfluss auf die Gestaltung der Rechtsbehelfsbelehrung haben.[90]
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c) Im Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit enthält der Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) eine Entscheidung für die Rechtssicherheit und verbürgt sogleich ein subjektives Recht des Einzelnen, nicht wegen einer Straftat (d.h. wegen derselben Tat im prozessualen Sinne[91]) wiederholt zur Verantwortung gezogen zu werden.[92] Dabei statuiert Art. 103 Abs. 3 GG nach ganz h.M. nicht nur ein Verbot der „Doppelbestrafung“, sondern – vorbehaltlich der engen Möglichkeiten einer Wiederaufnahme nach § 362 StPO – ein weitergehendes Verbot der nochmaligen Befassung nach einem Sachurteil (also auch der späteren Verfolgung nach einem rechtskräftigen Freispruch).[93] Soweit darüber hinaus auch bei anderen Entscheidungen im Verfahren (etwa in Fällen des § 153a oder des § 211 StPO) ein teilweiser Strafklageverbrauch angenommen wird, dürfte dieser nicht durch Art. 103 Abs. 3 GG abgesichert sein. Auch die Anwendung auf den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts dürfte jedenfalls als strenge verfassungsrechtliche Garantie mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift abzulehnen sein (was einen Rückgriff auf allgemeine Vertrauensschutzgedanken nicht ausschließt). Auch gilt die Garantie des Art. 103 Abs. 3 GG selbst nur national, so dass für im Ausland erlittene Strafhaft eine Lösung auf Vollstreckungsebene über eine Anrechnung auf die in Deutschland zu verhängende Strafe (vgl. § 51 Abs. 3 StGB) gefunden werden muss. Auf europäischer Ebene finden sich freilich Erweiterungen insb. in Art. 54 SDÜ[94] bzw. Art. 50 EuGrCh.
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d) Art. 104 GG sichert als grundrechtsgleiches Recht bestimmte prozessuale Voraussetzungen bei Eingriffen in die Freiheit der Person und stellt insoweit ein formelles Gegenstück zur materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG dar.[95] Gefordert werden ein förmliches Gesetz als Befugnisnorm (Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG) und die Entscheidung eines Richters (Art. 104 Abs. 2, 3 GG), über die grds. ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen ist (vgl. Art. 104 Abs. 4 GG). Die strafprozessuale Bedeutung der Vorschrift liegt naturgemäß vornehmlich im Haftrecht.
4. Das Rechtsstaatsprinzip als inhaltliches Kriterium
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a) Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die Legislative an die verfassungsmäßige Ordnung sowie die Exekutive und Judikative „an Gesetz und Recht gebunden“. Daraus wird traditionell das sog. Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, das sich in verschiedene – in ihren Auswirkungen auf die Behandlung konkreter Fälle mitunter durchaus gegenläufige – Ausprägungen konkretisieren lässt. Diese schützen teilweise den Beschuldigten, der grds. nur Belastungen dulden muss, welche den Anforderungen eines Rechtsstaats genügen; andererseits wird das Rechtsstaatsprinzip aber auch durch eine funktionierende und effektive Justiz konkretisiert, hier in ihrer speziellen Ausprägung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als hohes Gut für den Rechtsstaat.
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b) In der erstgenannten Dimension ergänzt das Rechtsstaatsprinzip den grundrechtlichen Schutz durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitstheorie sowie Bestimmtheit), durch den Aspekt des Vertrauensschutzes, durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie durch den Gedanken des effektiven Rechtsschutzes und eines gerechten Verfahrens (fair trial). Eine Reihe dieser Aspekte, die nicht nur aus Art. 20 Abs. 3 GG, sondern näher am Normtext auch aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK abgeleitet werden können, haben – zumindest teilweise – spezielle Normierungen im Grundgesetz und selbstverständlich erst recht ausdifferenzierten Niederschlag in zahlreichen Vorschriften der StPO gefunden. Das Spektrum der Fragen, zu denen schon länger oder aber schwerpunktmäßig in der jüngeren Vergangenheit das Rechtsstaatsprinzip – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – bemüht worden ist, ist ebenso weit wie divergent.[96]
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c) Das Rechtsstaatsprinzip fordert freilich nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts, sondern gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege.[97] Dies setzt ausreichende Vorkehrungen dafür voraus, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.[98] Insoweit wird freilich gegen diesen in der Rechtsprechung entwickelten Topos in der Literatur immer wieder – und auf den ersten Blick nachvollziehbar – vorgebracht,[99] dass die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ praktisch nur Erwähnung findet, wenn es um Einschränkungen von Beschuldigtenrechten geht, obwohl auch deren Schutz ohne Zweifel zu einem funktionierenden rechtsstaatlichen Strafprozess gehört. Durch die scheinbare Harmonisierung antagonistischer Interessen[100] scheinen im Ergebnis die Beschuldigteninteressen im Konfliktfall in den Hintergrund gedrängt zu werden. Bei genauerer Betrachtung fällt freilich nicht nur auf, dass in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (einschließlich derjenigen des BVerfG) die Beschuldigteninteressen keinesfalls immer im Konfliktfall hintangestellt werden; vielmehr fungiert die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ in der Regel auch weniger als ein neu geschaffenes, den Beschuldigtenrechten