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b) Ebenso wie in anderen Rechtsgebieten kommt auch im Strafprozessrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit – ggf. konkretisiert zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 GG) – eine Auffangfunktion zu. Beispiele, in denen die Rspr. diese Position diskutiert hat, sind etwa die Beschlagnahme von Tagebuchaufzeichnungen (soweit nicht schon unter die Menschenwürde isoliert gefasst),[56] die Beschlagnahme einer Karteikarte über den Beschuldigten bei seinem Arzt[57] oder das Abhören von Selbstgesprächen im Krankenzimmer[58] oder in einem Pkw.[59] In neuerer Zeit wird hier auch das „Computergrundrecht“ auf Gewährleistung und Vertraulichkeit der Integrität informationstechnischer Systeme verortet.[60]
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c) Für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, die mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit verbunden sind, gibt es zwar in Gestalt von § 81a StPO eine Befugnisnorm. Sie sind jedoch immer in besonderer Weise an den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu messen. Bekannt sind hier etwa – auch das gesamte Spektrum an Eingriffsintensität abbildend – Entscheidungen zur Veränderung der Haar- und Barttracht,[61] zur Liquorentnahme[62] sowie zur Hirnkammerlüftung.[63] Insb. zu Ermittlungen in Betäubungsmittelsachen wurde lange Zeit der zwangsweise Einsatz von Brechmitteln diskutiert, welcher durch eine Entscheidung des EGMR im Jahr 2006 im Wesentlichen obsolet geworden ist.[64]
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d) Die Freiheit der Person ist im Strafverfahren thematisch das zentral einschlägige Grundrecht mit Blick auf das Haftrecht, in dem verfassungskonforme Auslegung und besondere Anforderungen von Verfassungs wegen eine besondere Rolle spielen.[65] Dabei wird Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG allerdings ganz maßgeblich durch die spezielleren Garantien des Art. 104 GG überlagert, vgl. auch Rn. 39.
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e) Die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) kann bei Durchsuchungs- oder Überwachungsmaßnahmen beeinträchtigt werden, wenn diese sich gegen Pressemitarbeiter richten und deren Recherchetätigkeit bzw. die Informantenermittlung zum Gegenstand haben. Das BVerfG hat hierzu etwa in seiner CICERO-Entscheidung ausgesprochen, dass Durchsuchungen und Beschlagnahmen in einem Ermittlungsverfahren gegen Presseangehörige dann verfassungsrechtlich unzulässig sind, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dienen, die Person des Informanten zu ermitteln.[66] Gerichtsverfassungsrechtlich kann die Pressefreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht der Beteiligten in einen Konflikt geraten, was die Auslegung der Reichweite insb. des § 169 GVG beeinflussen kann.[67]
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f) Gerade in der jüngeren Vergangenheit[68] von eminenter Bedeutung sind Probleme im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsgeheimnis des Art. 10 GG. Diese rühren daher, dass aufgrund veränderter technischer Möglichkeiten zum einen Umfang und Intensität der elektronischen Individualkommunikation massiv zugenommen haben und dass zum anderen selbst die nachträglich in die StPO eingefügten Vorschriften nicht immer mit der technischen Entwicklung Stand halten bzw. ihre Auslegung zumindest teilw. ungeklärt ist.[69] Nicht zuletzt durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG sind hierbei durch eine detailliertere und an Vorgaben des BVerfG ausgestaltete Gesetzesformulierung diverse verfassungsrechtliche Konflikte schon in das einfache Gesetzesrecht transportiert und zumindest für viele Fälle aufgelöst worden, einschließlich eines speziellen Rechtsbehelfs in § 101 StPO.
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g) Als praktisch höchst wichtige Ermittlungsmaßnahme greift die Durchsuchung nach §§ 102 ff. StPO regelmäßig in den Schutzbereich des Art. 13 GG ein. Die Anforderungen an solche Eingriffe und an die Anordnungen, insb. auch an die Feststellung der Gefahr im Verzug, sind Gegenstand reichhaltiger Rspr. des BVerfG.[70] Neben einem physischen Eindringen in die Wohnungen ist auch die akustische Wohnraumüberwachung am Maßstab des Art. 13 GG gemessen worden,[71] was die Auffassung des BVerfG, bei einer „Online-Durchsuchung“ sei regelmäßig Art. 13 GG nicht berührt, widersprüchlich erscheinen lässt.[72]
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h) Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz hat als solcher ein großes spontanes „Gerechtigkeitspotential“ und eine thematische Nähe zur Idee der „Waffengleichheit“, die grundsätzlich von Bedeutung für ein rechtsstaatliches Verfahren ist.[73] Freilich werden aufgrund der unterschiedlichen Funktionen der verschiedenen Verfahrensbeteiligten nicht selten Differenzierungskriterien zu benennen sein, welche eine nicht-willkürliche Ungleichbehandlung ermöglichen. Der scheinbare Vorteil der Weite des Grundrechts führt als Kehrseite insoweit dazu, dass etwaige Verstöße auch weniger leicht „scharf gestellt“ werden können.
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i) Die die persönliche Lebensgestaltung in religiöser und familiärer Hinsicht schützenden Grundrechte aus Art. 4 und 6 GG wirken sich insb. im Zusammenhang mit den Zeugenpflichten (und damit nicht nur im Ermittlungsverfahren, sondern in gleicher Weise in der Hauptverhandlung) aus. Insb. eheliche und verwandtschaftliche Beziehungen sind bereits durch die Einräumung von Zeugnisverweigerungsrechten in §§ 52 ff. StPO berücksichtigt. Zeugnisverweigerungsrechte im Zusammenhang mit der Religionsausübung werfen insb. die Frage ihrer Reichweite auf, so etwa hinsichtlich des vom Zeugnisverweigerungsrecht noch umfassten Bestandteils der Dienstausübung eines Gefängnisseelsorgers[74] oder hinsichtlich der Reichweite des Seelsorgerprivilegs bei Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Yeziden.[75]
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j) Eingriffe in die Berufsfreiheit (und hier insb. mit der für eine Beeinträchtigung des Art. 12 GG erforderlichen objektiv berufsregelnden Tendenz[76]) kommen v.a. gegenüber dem Verteidiger in Betracht, wenn prozessuale Maßnahmen unmittelbar an seine berufliche Tätigkeit anknüpfen. Dies ist immer dann der Fall, wenn es um Bestellung oder auch um Entpflichtung des Verteidigers (insb. gegen seinen Willen) geht,[77] aber auch im Zusammenhang mit dem Umgang mit dem Beschuldigten, etwa bei der Überwachung von Briefverkehr[78] oder der Telekommunikation zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger.[79]
3. Verfahrensgrundrechte im Strafprozess
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Das Grundgesetz enthält auch eine Reihe von Rechtsgewährleistungen des Bürgers gegenüber der Justiz. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Verfassungsbeschwerdefähigkeit werden diese als „Justizgrundrechte“ bezeichnet und gelten (nicht nur, aber selbstverständlich auch und) teilweise sogar exklusiv im Strafverfahren. Die wahrscheinlich wichtigste spezifisch strafrechtliche Garantie in Gestalt von Art. 103 Abs. 2 GG betrifft zwar das materielle Recht; doch andere ebenfalls wichtige Garantien haben das Verfahren(srecht) im Blick:[80]
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a) Der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) soll Eingriffe unbefugter Dritter in Gerichtsverfahren verhindern[81] und außerdem dadurch, dass die Entscheidungszuständigkeit bereits ante casum feststeht, dafür sorgen, dass sowohl der Betroffene als auch die Öffentlichkeit grundsätzlich in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit des Gerichts vertrauen können. Die Garantie gilt nicht nur hinsichtlich des zuständigen Gerichts (als übergeordnete Organisationseinheit), sondern auch für