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Das Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren (EMöGG)[175] vom 8. Oktober 2017 sieht eine geringfügige Einschränkung des ausnahmslosen Verbots von Ton- und Filmaufnahmen in § 169 GVG in dreierlei Hinsicht vor: Zum einen können nun Entscheidungsverkündungen des Bundesgerichtshofs, nicht aber der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes, grundsätzlich von Medien übertragen werden, wenn das Gericht dies gestattet, zweitens können, als Folge der Erfahrungen mit dem Münchener NSU-Prozess, Arbeitsräume für Medienvertreter nur mit Tonübertragung für Verfahren mit erheblichem Medieninteresse vorgesehen werden und drittens wird eine Tonaufzeichnung von Gerichtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung ermöglicht. Schließlich kann Personen mit Sprach- und Hörbehinderungen im Strafverfahren eine Sprach- oder Übersetzungshilfe für das gesamte Verfahren beigeordnet werden (§§ 186, 187 GVG).
2. Ermittlungsbefugnisse
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Mit Gesetz vom 10. Dezember 2015[176] wird die Vorratsdatenspeicherung in beschränktem Umfang wiedereingeführt (§§ 100g, 101a, 101b StPO n.F., 113a, 113b TKG n.F.). Erst in der Ausschussberatung[177] des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens und folglich ohne vorbereitende rechtspolitische Diskussion wurden 2017 zwei weitere Eingriffsbefugnisse in die StPO aufgenommen, die der Anpassung an moderne Kommunikationstechnik dienen, nämlich die sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ), die auf Kommunikationsinhalte vor ihrer Verschlüsselung zugreift (§ 100a Abs. 1 Satz 2 und 3, neue Absätze 4 bis 6 StPO), und die Online-Durchsuchung (§ 100b StPO), für die es ebenfalls einer eigenen Eingriffsgrundlage in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme[178] bedurfte.
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Die Streichung des Richtervorbehalts in § 81a StPO bei Straßenverkehrsdelikten war zunächst in einem eigenen Gesetzentwurf vorgesehen[179] und wurde dann im Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens durch Einfügung eines neuen Satzes 2 in § 81a Abs. 2 StPO beschränkt auf Verkehrsdelikte realisiert. Zudem wurden die §§ 81e, 81h StPO angepasst, um „Beinahetreffer“ bei DNA-Reihenuntersuchungen verwerten zu können.
a) Rechtsstellung des Beschuldigten
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Mit dem Gesetz vom 17. Juli 2015[180] reagierte der Gesetzgeber auf die Entscheidung des EGMR vom 8. November 2012, dass die Verwerfung einer Berufung des nicht persönlich erschienenen, aber anwaltlich vertretenen Angeklagten gem. § 329 Abs. 1 S. 1 StPO einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c EMRK darstelle,[181] und fasst § 329 StPO neu.
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Das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 bezweckt auch eine Verbesserung der Wahrheitsfindung durch bessere Dokumentation des Ermittlungsverfahrens, namentlich durch die audiovisuelle Aufzeichnung von Vernehmungen, die aber nur beim Verdacht eines vorsätzlichen Tötungsdelikts sowie bei schutzbedürftigen Zeugen verpflichtend ist (§ 136 Abs. 4 StPO). Zur Stärkung der Beschuldigtenrechte wird diesem bei einer richterlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder von Amts wegen ein Verteidiger bestellt, wenn dessen Mitwirkung aufgrund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint (§ 141 Abs. 3 S. 4, Abs. 4 StPO). Sowohl der Transparenz als auch dem Verteidigungsrecht des Beschuldigten dient eine mehrfache Erweiterung der Hinweispflicht des § 265 StPO u.a. bei geänderter Sachlage.
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Das Zweite Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts vom 27. August 2017[182] dient der weiteren Umsetzung der Richtlinie 2013/48/EU,[183] die Teil der Verwirklichung des europäischen „Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren“[184] ist. Das Gesetz gestattet nun die Anwesenheit des Verteidigers bei einer Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten (§ 58 Abs. 2 StPO). Ausdrücklich verankert wird die Verpflichtung, dem Beschuldigten, der vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen will, allgemeine Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren (§ 136 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO). Geändert werden auch die Vorschriften über die Kontaktsperre (§§ 31 ff. EGGVG) dahingehend, dass sie den Kontakt mit dem Verteidiger nicht in jedem Fall berühren.
b) Rechtsstellung von Zeugen und Verletzten
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Vorkehrungen zur Rücksichtnahme auf die besonderen Schutzbedürfnisse des verletzten Zeugen regelt der durch das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. Dezember 2015 eingefügte § 48 Abs. 3 StPO.
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Das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. Dezember 2015[185] dient der Umsetzung der neuen Opferschutzrichtlinie 2012/29/EU vom 25. Oktober 2012 mit punktuellen Änderungen und einer der Verbesserung der Übersichtlichkeit dienenden Neufassung der §§ 406d bis 406l StPO, in die der Anspruch auf psycho-soziale Prozessbegleitung (§ 406g StPO n.F.) neu aufgenommen wird. Vorgesehen wird zudem eine Eingangsbestätigung der Strafanzeige des Verletzten in § 158 Abs. 1 StPO, wenn dies beantragt wird.
D. Rückblick
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Vergleicht man die StPO des Jahres 2017 mit der Fassung des Vereinheitlichungsgesetzes von 1950, so hat man es mit zwei in ihrer Grundstruktur eng verwandten, aber ansonsten deutlich verschiedenen Gesetzen zu tun.[186] Das heutige Gesetz ist nicht nur erheblich umfangreicher[187] – mehr Paragraphen (669 gegenüber 483), die mitunter auch erheblich länger sind (z.B. die heutigen §§ 100c, 100g, 101 StPO) –, es atmet auch den Geist einer anderen Zeit[188].
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Die Rechtsstellung des Beschuldigten hat sich in mancher Hinsicht und sowohl aufgrund gewachsener Grundrechtssensibilität des Gesetzgebers als auch infolge der immer dichter werdenden Judikatur von BVerfG und EGMR verbessert, es gibt mehr Belehrungs- und Informationspflichten, die Gehör, Einflussnahme und Zugang zu anwaltlichem Beistand erleichtern. Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe sind hinsichtlich Voraussetzungen und Verfahren erheblich präzisiert worden, einschließlich vorstrukturierter Abwägungen anhand von Straftatkatalogen nebst einer Fülle intrikater Datenschutzregeln. Diese Entwicklung ist allerdings, als kaum vermeidbare Folge steter Novellengesetzgebung, uneinheitlich verlaufen: Den filigranen Eisblüten rechtsstaatlichen Raffinements, die mitunter bis an die Grenzen der Praktikabilität gehen – man denke an die vorerwähnten §§ 100c, 100g, 101 sowie §§ 131 bis 131c StPO – stehen die lakonischen