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Das 2. OpferRRG[154] gibt dem Beschuldigten ein eigenes Wahlrecht für seinen Verteidiger, bevor das Gericht diesen bestellt, § 142 Abs. 1 StPO. In Umsetzung der Richtlinien 2010/65/EU und 2012/13/EU werden 2013 der Umfang der Übersetzungsleistungen für Beschuldigte, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, angepasst und erstmals auf die ganzen Urteilsgründe erstreckt (§ 187 Abs. 2 GVG), sowie Belehrungs- und Unterrichtungspflichten erweitert.[155]
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Kommt die Unterbringung des Angeklagten in Betracht, so muss nach dem 2007[156] neu gefassten § 246a StPO nun in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger gehört werden.
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Eine umfangreiche Neuordnung des Rechts der Untersuchungshaft erfolgt 2009[157] und nimmt zahlreiche Entwicklungen in der Rechtsprechung auf wie detaillierte Informations-, Belehrungs- und Benachrichtigungspflichten (§§ 114a ff. StPO). Inhaftierung (§§ 114d, 114e StPO) und Haftvollzug (§§ 119, 119a StPO) erhalten eine präzisere gesetzliche Regelung, die gleichwohl das seit Jahrzehnten geforderte Untersuchungshaftvollzugsgesetz nicht ersetzen kann. Zugleich erfolgt eine zaghafte Ausweitung des Akteneinsichtsrechts (§ 147 Abs. 2 S. 2 und Abs. 7 StPO).
b) Rechtsstellung der Zeugen
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Neu eingefügt durch das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen vom 21. Dezember 2007[158] wird § 160a StPO, der die Umgehung der Zeugnisverweigerungsrechte der Berufsgeheimnisträger[159] durch andere Ermittlungsmaßnahmen – in freilich systematisch fragwürdiger Weise[160] – verhindern soll. Das Gesetz zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht vom 25. Juni 2012[161] erhöht den für die Ausnahme vom Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 5 StPO erforderlichen Verdachtsgrad auf „dringend“.
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Das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. Juli 2009[162] verstärkt auch den Schutz gefährdeter Zeugen und fasst die gestufte Anonymität in § 68 StPO neu, ebenso das Recht auf Beistand gem. § 68b StPO. Auch in der Anklageschrift kann von nun an auf die Angabe der Anschrift verzichtet werden, § 200 Abs. 1 S. 3 bis 5 StPO. Bei jugendlichen Zeugen wird die Schutzaltersgrenze von 16 auf 18 Jahre angehoben, etwa für die Eidesunmündigkeit, § 60 StPO. Bei polizeilicher Vernehmung eines Zeugen werden die Belehrungspflichten im Katalog des neuen § 163 Abs. 3 StPO (anstelle des aufgehobenen vormaligen § 163a Abs. 5 StPO) klargestellt. Ausdrücklich normiert in § 48 Abs. 1 StPO wird nun die bisher unausgesprochen vorausgesetzte Pflicht des Zeugen, vor Gericht zu erscheinen und auszusagen.
c) Rechtsstellung des Verletzten
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Das Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom 24. Oktober 2006[163] überarbeitet die Vorschriften zur vollstreckungssichernden Sicherstellung (§§ 111b bis 111k StPO) auch mit Blick auf die Ansprüche des Geschädigten. Einen Auskunftsanspruch des Verletzten über Kontaktverbote und den Status gegen den Beschuldigten oder Verurteilten angeordneter freiheitsentziehender Maßnahmen gewährt der 2007 hinzugefügte § 406d Abs. 2 StPO.[164]
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Das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29. Juli 2009[165] fasst einige Vorschriften über die Nebenklage neu (§§ 395, 397, 397a StPO), erweitert den Katalog der nebenklagefähigen Delikte sowie derjenigen, bei denen ein Beistand gestellt wird. Die allgemeinen Verletztenbefugnisse in §§ 406e bis 406h StPO werden einfacher gefasst. Interessanterweise wird auch eine Vorschrift über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in die StPO aufgenommen, dass nämlich die Staatsanwaltschaft die Anzeige eines inländischen Opfers einer Straftat, die im Ausland begangen wurde und nur dort strafbar ist, an die zuständige ausländische Strafverfolgungsbehörde weiterleiten kann, § 158 Abs. 3 StPO.
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Eine deliktsspezifische Ergänzung ist kurz darauf durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) vom 26. Juni 2013[166] erfolgt. Um mehrere Vernehmungen, vor allem eine erneute Vernehmung von schutzbedürftigen Opferzeugen in der Hauptverhandlung, zu vermeiden, soll gem. § 58a Abs. 1 StPO schon die erste Vernehmung eine richterliche sein und audiovisuell aufgezeichnet werden. § 255a Abs. 2 StPO ermöglicht das Abspielen in der Hauptverhandlung. Auf die schutzwürdigen Interessen von Prozessbeteiligten, Zeugen oder Verletzten soll ferner bei der Verkündung der mündlichen Urteilsgründe Rücksicht genommen werden, § 268 Abs. 2 S. 2 StPO; dazu kann, soll oder muss auch die Öffentlichkeit schon während der Verhandlung ausgeschlossen werden, § 171b Abs. 1 bis 3 GVG. Schließlich werden die Rechte von mutmaßlichen Opfern dieser Straftaten im Rahmen der Nebenklagebefugnis erweitert, § 397a StPO.
IV. Die Entwicklung seit 2013
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In der 18. Legislaturperiode ist es zum ersten Mal in der Bundesrepublik zur Einsetzung einer mit Vertretern von Wissenschaft und Praxis besetzten „Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens“ gekommen.[167] Zwar wurde sie nicht wie die 50 Jahre zuvor geforderte „Große Strafprozesskommission“ mit der Aufgabe einer Gesamtreform betraut, sollte aber doch mehr als nur ad hoc-Korrekturen ersinnen. Die Ziele der Effektivierung und Steigerung der Praxistauglichkeit sollten durch weiterreichende Reformvorschläge im Sinne struktureller Verbesserungen erreicht werden; darauf beruhende Gesetzentwürfe sollten allerdings noch in der laufenden Legislaturperiode in Kraft treten, womit anspruchsvollere Reformvorhaben praktisch ausschieden.[168] Im Oktober 2015 hat die Kommission ihren Abschlussbericht vorgelegt mit einer Fülle von Detailvorschlägen,[169] von denen eine Reihe noch gegen Ende der Legislaturperiode umgesetzt wurden. Nicht aufgegriffen wurden Vorschläge zur Anwesenheit des Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung, zur Schaffung einer speziellen gesetzlichen Grundlage für den Einsatz von V-Personen, für ein ausdrückliches gesetzliches Verbot der Tatprovokation sowie die Anregung, die Einführung einer obligatorischen audiovisuellen Dokumentation der gesamten erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem LG und OLG zu prüfen. Insgesamt wurde die StPO bis zum Ende der Legislaturperiode durch 31 Gesetze geändert, wovon ein Teil auf sachlich gehaltlose Folgeänderungen entfiel.
1. Modernisierung
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Das Gesetz vom 17. Juli 2015[170] stellt der Strafprozessordnung eine Inhaltsübersicht voran, zugleich erhielten die Untergliederungen und Vorschriften nun amtliche Überschriften. Das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13. April 2017[171] ersetzt im StGB die bisherigen Instrumente Einziehung und Verfall durch die einheitliche Einziehung (neuen Typs), wodurch eine Neuordnung der prozessualen Vorschriften, namentlich von vollstreckungssichernder Beschlagnahme und Arrest in §§ 111b bis 111q StPO und der besonderen Verfahrensregeln nach §§ 421 ff. StPO sowie des selbstständigen Einziehungsverfahrens (§§ 435 bis 439 StPO) erforderlich wurde. Ein Novum stellt die besondere Beweismaßregelung des § 437 StPO dar, die dem Gericht erläutert, worauf es seine Überzeugung stützen darf, und neben § 261 StPO überflüssig erscheint.
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Das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs[172] vom 5. Juli 2017[173] schafft auch im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage für die Einführung einer elektronischen Akte. Zugleich werden die Vorschriften über den elektronischen Rechtsverkehr in Strafsachen an die Regelungen angeglichen, die für die übrigen Gerichtsbarkeiten schon im Jahr 2013 geschaffen wurden. Ab dem 1. Januar 2026 sollen in Strafsachen neu anzulegende Akten nur noch elektronisch geführt werden (§§ 32 bis 32f, 496 bis 499