II. Die „kleine Strafprozessreform“ des StPÄG 1964
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Das StPÄG vom 19. Dezember 1964,[16] das am 1. April 1965 in Kraft trat, war[17] als erste Etappe auf dem Weg zu einer neuen StPO gedacht. Die Entwurfsbegründung nannte die Reform des Strafverfahrensrechts „eine der wichtigsten rechtspolitischen Aufgaben“ und bekannte sich zum Ziel einer Gesamtreform.[18] Bei der Verabschiedung des Gesetzes forderte der Bundestag den Bundesminister der Justiz einstimmig auf, zu diesem Zweck eine Große Strafverfahrenskommission einzuberufen,[19] wozu es nicht kam. Das StPÄG sollte daher nur die dringendsten Reformforderungen verwirklichen, ohne die umfassende Reform zu präjudizieren. Die Bewertung des Gesetzes hat sich im Laufe der Zeit gewandelt; anfangs heftig umstritten und als „Verbrecherschutzgesetz“[20] diffamiert, erschien es vielen unter dem Eindruck der Anti-Terrorismusgesetzgebung der 1970er Jahre als „einsamer Höhepunkt liberaler Rechtsentwicklung“[21].
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Wesentlicher Inhalt des StPÄG war die Verbesserung der Stellung des Beschuldigten unter Umsetzung der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben, wobei z.T. auf Vorarbeiten der Entwürfe von 1909 und 1919 zurückgegriffen wurde. Neu geregelt wurde das Recht der Untersuchungshaft mit dem Ziel der Beschränkung von Häufigkeit und Dauer derselben durch Präzisierung der Haftgründe und Betonung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO); neu eingeführt wurde die halbjährliche besondere Haftprüfung vor dem OLG. Zugleich wurde aber auch die „haftgrundlose“ Haft bei bestimmten schweren Delikten (damals § 112 Abs. 4, heute Abs. 3 StPO) und der ebenfalls umstrittene Haftgrund der Wiederholungsgefahr (damals § 112 Abs. 3, heute § 112a StPO) eingeführt.[22]
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Der besseren Gewährleistung des in Art. 103 Abs. 1 GG garantierten rechtlichen Gehörs und der Wahrnehmung der Verteidigungsrechte dienen die neu eingefügten §§ 33a, 163a, 257a StPO – mit § 163a Abs. 2 StPO erhält der Beschuldigte erstmals einen Beweiserhebungsanspruch im Vorverfahren[23] – und die Änderung der §§ 33, 243, 308, 311, 350, 369 StPO, die durch ausdrückliche Belehrungspflichten (§§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO) über das Schweigerecht des Beschuldigten bzw. Angeklagten ergänzt werden. Das damit zusammenhängende Schlussgehör vor der Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen und vor Anklageerhebung nach §§ 169a bis 169c StPO a.F. hat sich nicht bewährt und wurde zehn Jahre später durch das 1. StVRG wieder gestrichen. Ausgebaut wurde die Stellung des Verteidigers durch erstmalige gesetzliche Anerkennung des Akteneinsichtsrechts und die – bis zuletzt im Gesetzgebungsverfahren politisch hochumstrittene – Gewährleistung des uneingeschränkten mündlichen und schriftlichen Verkehrs mit dem Beschuldigten. Erstmals seit 1877 erhält nun auch der Angeklagte vor dem Amtsrichter als Einzelrichter die Anklageschrift zugestellt (§ 201 StPO).[24] Die Neugestaltung des Eröffnungsverfahrens, die mit Rücksicht auf die nun allmählich in das Bewusstsein dringende Unschuldsvermutung nicht mehr die Tat beschreibt und dem Angeklagten bescheinigt, ihrer hinreichend verdächtig zu sein, sondern nur noch die Anklage zulässt, ohne das strukturelle Problem der Vorbefasstheit zu lösen, wurde seinerzeit schon als Etikettenschwindel[25] oder bloße Kosmetik kritisiert.
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Daneben enthielt das StPÄG 1964 noch eine Vielzahl weiterer Änderungen, von denen nur die bedeutendsten hervorgehoben seien: Zur Stärkung des Vertrauens in die Unvoreingenommenheit des Richters wurden Ausschließungs- und Ablehnungsgründe neu geregelt und in der Revision die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper angeordnet. Das Legalitätsprinzip wurde weiter eingeschränkt durch Einfügung der Beschränkung der Strafverfolgung in § 154a StPO und Erweiterung des § 153 StPO, der bisher auf unbedeutende Tatfolgen beschränkt war. Für die Hauptverhandlung wurde eine erweiterte wörtliche Protokollierung vorgesehen, wonach in das Protokoll stets die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen aufzunehmen sind (§ 273 Abs. 2 StPO); diese Regelung wird später wieder gestrichen werden. Im Revisionsrecht wurde die Revisionsbegründungsfrist (§ 345 StPO) auf die noch heute gültige Monatsfrist verlängert, ferner die Beschlussverwerfung offensichtlich unbegründeter Revisionen (§ 349 Abs. 2 StPO) eingeführt, die bis heute zahlenmäßig von immenser Bedeutung ist. Die kostenmäßige Unterscheidung zwischen Freisprüchen erster und zweiter Klasse wurde gemildert, weil der Kostenausspruch nicht mehr im Urteil, sondern in einem gesonderten Beschluss verkündet wird.
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Im GVG wird erstmals das Verbot der Ton-, Film- und Fernsehaufnahmen zum Zweck der öffentlichen Vorführung in § 169 S. 2 verankert und die Verpflichtung zur kammerinternen Geschäftsverteilung (damals § 69, heute § 21g GVG) geschaffen.
III. Reformpause (1964–1974)
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In den nächsten ungefähr zehn Jahren blieben große Reformen aus, die Änderungen der StPO, obwohl zahlreich, waren inhaltlich eher punktuell. Das EGOWiG vom 24. Mai 1968[26] erneuert die Regelung der Nebenbeteiligten (§§ 430 ff. StPO), reformiert das Kostenrecht (§§ 464a ff. StPO) und beseitigt insbesondere die kostenmäßige Differenzierung zwischen Freispruch wegen erwiesener Unschuld und mangels Beweises wieder. Das 8. StrÄndG vom 25. Juni 1968[27] ordnet die Staatsschutzdelikte neu, ändert und erweitert die Einstellungsmöglichkeiten der heutigen §§ 153c bis 153e StPO. Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13. August 1968[28] führt mit den neuen §§ 100a, 100b StPO die zentralen Ermächtigungsgrundlagen für die Fernmeldeüberwachung ein, deren Straftatenkatalog seitdem ständig erweitert wurde. Die vom StPÄG 1964 verengten Haftgründe wurden vom StPÄG 1972[29] wieder gelockert und durch den seither umstrittenen selbstständigen Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) ergänzt.
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Im Gerichtsverfassungsrecht wurde durch Gesetz vom 8. September 1969[30] die bisherige erst- und zugleich letztinstanzliche Zuständigkeit des BGH, die nach dem Vorbild des RG in § 134 GVG a.F. fortbestand, beseitigt. Ein zweiter Rechtszug in Staatsschutzsachen wurde eingeführt, indem die erstinstanzliche Zuständigkeit den Oberlandesgerichten übertragen wurde, die dann im Wege der Organleihe Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben (so der geänderte Art. 96 Abs. 5 GG) und auf diese Weise das weitere Tätigwerden des Generalbundesanwalts erlauben. Änderungen im GVG betrafen die Möglichkeit der Einrichtung von Wirtschaftsstrafkammern in § 74c GVG,[31] die Einführung der jetzigen Präsidialverfassung (§§ 21a ff. GVG), die Änderung der Dienstbezeichnungen der Richter[32] – „Richter am Amtsgericht“ statt „Amtsrichter“, „Vorsitzender Richter am Landgericht/Oberlandesgericht“ statt „Landgerichtsdirektor“ oder „Senatspräsident“ usw. – und Beseitigung der Falschbezeichnung „Geschworene“ für die Laienrichter des – ebenfalls seit 1924 bis heute falsch bezeichneten – Schwurgerichts in „Schöffen“[33]. Das 1. StRG vom 25. Juni 1969[34] führte nicht nur die Einheitsfreiheitsstrafe ein, sondern änderte auch den Strafbann des Amtsgerichts, der zuvor bei Zuchthaus auf zwei Jahre begrenzt und bei Gefängnis unbeschränkt war, nun auf maximal drei Jahre Freiheitsstrafe.
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Erwähnung verdienen daneben noch das neue StrEG vom 8. März 1971,[35] das u.a. der besseren Umsetzung der Unschuldsvermutung dient, sowie das mit Gesetz vom 18. März 1971[36] eingeführte Bundeszentralregister, das an die Stelle der bis dahin dezentral bei den Staatsanwaltschaften geführten Register tritt und die Resozialisierung durch Nichtaufnahme bestimmter Verurteilungen, kürzere Tilgungsfristen und ein umfassendes Verwertungsverbot nach Eintritt der Tilgungsreife (§ 51 BZRG) besser fördern soll.
IV. Gesamtreform in Teilgesetzen und Terrorismusbekämpfung (1974–1987)
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