Teil 1 Die dogmengeschichtliche Entwicklung › A. Der „tatsächliche Zusammenhang“ im Geltungsbereich der Konkursordnung › III. Der „tatsächliche Zusammenhang“ in der Interpretation durch das konkursstrafrechtliche Schrifttum: Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg?
III. Der „tatsächliche Zusammenhang“ in der Interpretation durch das konkursstrafrechtliche Schrifttum: Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg?
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Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum „tatsächlichen Zusammenhang“ wurde von einem breiten Schrifttum rezipiert.[118] Die Frage, wie sich der Gesetzgeber das Verhältnis dieser Tatsachen zueinander denkt, sei für die Auslegung von der allergrößten Bedeutung und hänge nach Ansicht des Schrifttums davon ab, was Gegenstand der Bestrafung gewesen sei.
Die Kernfrage sei, was der Gesetzgeber eigentlich verbietet?[119] Das konkursstrafrechtliche Schrifttum unternahm zwischen 1880 und 1950 vielfach den Versuch, den Bankrotttatbestand einer Deliktsart zuzuordnen und hierbei den Zusammenhang zwischen Tathandlung und Zahlungseinstellung/Konkurseröffnung zu benennen.[120] Die Frage nach Erforderlichkeit und Inhalt des Zusammenhangs wurde hierbei an unterschiedlichen Stellen aufgeworfen: im Rahmen der Kommentarliteratur wurde der Problembereich „tatsächlicher Zusammenhang“ in der Regel bei der Frage, wie Zahlungseinstellung/Konkurseröffnung im Hinblick auf den Gesamtunrechtstatbestand auszulegen sind, diskutiert. Mancherorts wurde vorab die Frage nach dem „Strafgrund“ und dem Wesen der Bankrottdelikte gestellt und dort auf den Zusammenhang zwischen Handlung und Zahlungseinstellung/Konkurseröffnung Bezug genommen.[121] Andere stellten sich die Frage, worin das Hauptgewicht des „Unrechts“ liege: in der „Bankrotthandlung“ oder vielmehr im „Bankrottwerden“?[122] Die Vertreter des Schrifttums waren sich jedenfalls einig, dass der Bankrott „zu denjenigen Delikten gehört, welche sich am schwersten unter die allgemeinen Regeln subsumieren lassen und deren Stoff sich am sprödesten zeigt gegenüber den Versuchen, die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts auf ihn anzuwenden.“[123] Die Interpretation des konkursstrafrechtlichen Schrifttums zeigte deutliche Parallelen zur Interpretation des Reichsgerichts. Nach einer breiten Auffassung im Schrifttum hingen die dogmatischen Grundlagenfragen im Rahmen des Bankrotts von der Bestimmung des „geschützten Rechtsguts“ ab. Auch das Schrifttum stellte wie das Reichsgericht die Belange der Konkursgläubiger in den Mittelpunkt der Auslegung. Anders als das Reichsgericht, bemühte sich das Schrifttum allerdings um eine begriffliche Erfassung und die inhaltliche Konkretisierung des „geschützten Rechtsguts“. Unerlässlich für das „materiale Unrecht“ eines Verbrechens sei jedenfalls eine „aggressive Gerichtetheit“, ein Angriff auf eben dieses Rechtsgut.[124]
a) Zum Stand der Rechtsgüterlehre des 19. Jahrhunderts
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Außerordentlich umstritten zu dieser Zeit aber war der Begriff und die Funktion des „geschützten Rechtsguts“. Dogmengeschichtlich war die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zunehmend damit beschäftigt, den Begriff des Verbrechens abstrakt generell zu erfassen und die Grenzen legitimer Bestrafung auszuloten.[125] Hierbei nahm der Begriff des Rechtsguts eine Schlüsselstellung ein. Das, was der Staat legitimerweise mit Strafe belegen dürfe, sei, wie bereits zu einem früheren Zeitpunkt von Feuerbach formuliert, auf eine Rechtsverletzung beschränkt: „Verbrechen ist eine durch das Strafgesetz bedrohte dem Recht eines Anderen widersprechende Handlung“.[126] Dem widersprach Birnbaum,[127] da das Recht weder vermindert noch entzogen werde, wenn der Gegenstand des Rechts, das Gut, vermindert oder entzogen wird.[128] Sonach gelte für die „Beziehung des in dem Verbrechensbegriff enthaltenen Merkmal der Verletzung “, dass dieser Begriff naturgemäß nicht auf den eines Rechts, sondern auf den eines Guts bezogen werden muss.[129] Birnbaum verstand unter strafbaren „Verbrechen“ eine dem Menschen zuzurechnende Verletzung oder Gefährdung eines Gutes, im Sinne eines körperlichen Gegenstandes (sog. Güterlehre/Schutzobjekttheorie).[130]
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Der Streit um diese Güterschutzlehre erreichte gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen des sog. „Schulenstreits“ einen ersten Höhepunkt. Als Anhänger des Rechtspositivismus definierte Binding 1872 das Verbrechen als Verstoß gegen eine Norm. Schutzobjekt der Norm sei hierbei „alles, an dessen unveränderter und ungestörter Erhaltung das positive Recht ein Interesse hat, was deshalb durch seine Normen vor unerwünschter Verletzung oder Gefährdung zu sichern bestrebt ist.“[131] Geschützt werde nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern die „Sicherstellung sämtlicher Bedingungen eines gesunden Rechtslebens, in welchem der Friede ungestört walte“.[132] Erst durch die Rechtsnorm werde ein Gegenstand zum Rechtsgut.[133] Der Begriff des Rechtsguts wurde zum zentralen Begriff in der Verbrechenslehre des Positivismus.[134] Dennoch war auch die Rechtsgüterlehre Bindings nicht geeignet, dem Gesetzgeber einen vorgelagerten Maßstab vorzugeben und damit die Grenzen eines legitimen Verbrechensbegriffs zu definieren. Da das Rechtsgut durch die Bildung eines Straftatbestandes und damit durch den Gesetzgeber selbst erschaffen wurde, hatte der Gesetzgeber die Macht, sich seine Grenzen selbst zu ziehen. Noch heute wird der Schlussfolgerung Bindings deshalb Zirkularität vorgeworfen.[135]
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Eine breite Strömung in der Strafrechtswissenschaft begann diese klassische (positivistische) Schule zu kritisieren und die Frage nach dem Sinn und Zweck der Norm in den Mittelpunkt der Erörterungen über das Wesen eines Delikts zu stellen.[136] Vornehmlich Liszt und Ihering (Marburger Schule) lösten den Schulenstreit aus, da sie sich auch im Hinblick auf andere Fragen, nicht mit dem rein positivistischen Ansatz begnügten.[137] Die sog. „moderne Schule“ ernannte sodann die Ausrichtung am Zweckgedanken als oberstes Prinzip im Strafrecht.[138] Ihering stellte darauf ab, dass allein der Zweck „der Schöpfer des Rechts“ sei.[139] Nach der Ansicht von Liszt enthalte das Verbrechen etwas „Reales“ und etwas „Vergeistigtes“: Real sind Handlung und die dadurch (kausal) verursachte Veränderung des Handlungsobjekts (im Sinne eines Gegenstandes) der Außenwelt.[140] Das Handlungsobjekt müsse hierbei strikt vom Rechtsgut getrennt werden. Im Hinblick auf das Rechtsgut sei eine kausale Verletzung nicht möglich, weil das Rechtsgut kein Ding, sondern ein Begriff sei.[141] Von Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsguts könne nur im übertragenen Sinne gesprochen werden (sog. vergeistigter Rechtsgutsbegriff), „jedes Rechtsgut verkörpere sich in einem Ding“.[142] Die Notwendigkeit einer Trennung von Rechtsgut und Angriffsobjekt wurde zunehmend gemeinsamer dogmatischer Nenner, wobei der Kern materiellen Unrechts noch immer wenig konkretisiert war.[143]
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war nicht nur die Definition des Begriffs Rechtsgut, sondern auch seine Stellung in der Verbrechenslehre und seine Bedeutung für die Praxis unklar.[144] Einigkeit bestand nur insofern, als dass auf dieses Konstrukt offenbar nicht verzichtet werden konnte.[145] Dennoch sorgte die bis dahin sehr vage Rechtsgüterlehre für Verwirrung und Unklarheit.[146] Aus heutiger Sicht kann die Rechtsgüterlehre zwar als eine der ersten „dogmatischen Früchte der freiheitlich-reformoptimistischen Epoche“[147] der Aufklärung bezeichnet werden, stand aber gleichzeitig im frühen Geltungszeitraum der Konkursordnung (1877-1920) noch in ihren Anfängen. Der dogmatische Ertrag der Rechtsgüterlehre, was Inhalt und Funktion des Rechtsguts in der Verbrechenslehre angeht, war gering.[148] Obgleich eine Definition fehlte, wurde das Rechtsgut zum Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlicher Auslegung und auch entscheidendes Auslegungskriterium der Konkursstrafbestimmungen. Konsens im Hinblick auf eine allgemeine Verbrechenslehre bestand insofern, als dass ein strafbares Verbrechen jedenfalls ein Subjekt voraussetzt, das seinerseits ein (wie auch immer ausgestaltetes) Objekt positiv bewertet und damit zu seinem Gut erhebt, welches vom Täter (irgendwie) angegriffen wird.[149]