a) Die Entscheidung des 1. Senats vom 21.11.1881
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In einer Entscheidung des 1. Senats vom 21.11.1881[82] ging es um die Strafbarkeit eines Kaufmanns, der in den Jahren 1876-1879 seine Handelsbücher, entgegen den handelsrechtlichen Vorgaben so unordentlich geführt hatte, dass ein Überblick über seinen Vermögenszustand nicht mehr gewährt werden konnte. Eine schuldhafte, tatbestandsmäßige Bankrotthandlung im Sinne von § 210 Nr. 2 KO lag vor.[83] Lediglich die letzte Bilanz aus dem Jahre 1879 war hingegen wieder ordnungsgemäß, weshalb zum Jahresende 1879 eine Übersicht wieder gewährt werden konnte. Im Jahr 1880 stellte der Angeklagte sodann seine Zahlungen ein. Da zwischenzeitlich eine ordnungsgemäße Jahresbilanz vorlag, konnte im Zeitpunkt des Zusammenbruchs eine Übersicht über die Vermögensverhältnisse gewährt werden. Eine Subsumtion unter den Tatbestand ergab zweifellos, dass der Angeklagte als Schuldner, welcher seine Zahlungen einstellte, gegen Buchführungspflichten verstieß. Dennoch sah das RG offenbar eine Besonderheit darin, dass die Pflicht zwischenzeitlich nachgeholt wurde. Das RG verneinte im Ergebnis eine Strafbarkeit:
„Diese Fassung (des § 210 KO), lässt erkennen, dass das Gesetz zwar nicht einen Kausalzusammenhang zwischen der Zahlungseinstellung und dem durch unordentliche Buchführung herbeigeführten Mangel an Übersicht verlangt, aber doch ein zeitliches Zusammentreffen[84] dieser Tatbestandsmerkmale voraussetzt. Es genügt sonach nicht, dass in irgendeinem der Zahlungseinstellung vorhergehenden Zeitpunkte zufolge unordentlicher Buchführung jene Übersicht gefehlt hat.“[85]
b) Die Entscheidung des 2. Senats vom 27.11.1896
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Auch der 2. Senat hatte im Rahmen der Auslegung des § 210 Nr. 2 KO zu entscheiden, wie „das Verhältnis der unordentlichen Buchführung zur Zahlungseinstellung“ ausgestaltet sein muss. Der Angeklagte stellte im April 1894 seine Zahlungen ein und führte zwischen Anfang Mai 1893 und Februar 1894 seine Bücher nicht.[86] Im zu entscheidenden Fall war der Richter der Vorinstanz der Auffassung, dass es für eine Bestrafung wegen § 210 Nr. 2 KO genüge, dass die Bücher in irgendeinem Zeitpunkt vor der ZE eine Übersicht nicht gewährten. Der 2. Senat widersprach der Vorinstanz:
„In dem der Gesetzgeber in § 210 KO sich der Zeitform eingestellt haben und eröffnet worden ist, bedient (und alsdann in Nr. 2 auf das Präteritum ‚haben‘ das Präsens ‚gewähren‘ folgen lässt, (...) verlangt derselbe zwar nicht eine Kausalität der mangelnden Vermögensübersicht für die Zahlungseinstellung wohl aber ein zeitliches Zusammentreffen beider Tatbestandsmerkmale[87]. Es greift hiernach die Nr. 2 des § 210 KO, wie der 1. Strafsenat in seinem Urteile vom 21.11.1881, RGSt5, S. 415 (...) bereits ausgesprochen hat, nur dann Platz, wenn durch die unordentliche Buchführung die Übersicht des Vermögenszustandes zur Zeit der Zahlungseinstellung oder Konkurseröffnung ausgeschlossen ist. Damit ist nicht gesagt, dass in Fällen, in denen Mängel der Buchführung vor der Zahlungseinstellung beseitigt sind, lediglich die spätere richtige Buchführung entscheidend ist; es kann vielmehr, unter Umständen ein Zusammenhang obwalten, welcher die Wirkung früherer Mängel als zur Zeit der Zahlungseinstellung noch fortdauernd erscheinen lässt.“[88]
c) Zusammenfassung
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Im Rahmen des § 210 Nr. 2 KO stellte das RG auf einen Zusammenhang zwischen fehlender Vermögensübersicht und Zahlungseinstellung/Konkurseröffnung in Form eines „zeitlichen Zusammentreffens“ ab. Ein durch Verstoß gegen die Buchführungs- oder Bilanzierungspflichten herbeigeführter Übersichtsmangel in „irgendeinem“ Zeitpunkt vor dem Zusammenbruch genügte demzufolge nicht. Der „tatsächliche Zusammenhang“ begrenzte hierbei den Anwendungsbereich der Norm in zeitlicher Hinsicht. Das „zeitliche Zusammentreffen“ wurde hierbei offenbar als Gleichzeitigkeit bzw. Parallelität von Übersichtsmangel und Konkurs verstanden. Dies würde bedeuten, dass die Vornahme der Tathandlung oder zumindest, der durch sie verursachte Mangel an Übersicht, im Moment des Konkurses noch andauern müsste.[89] Die Notwendigkeit einer solchen zeitlichen Beziehung hat ihren Grund womöglich im Wesen der Buchdelikte. Das unordentliche Führen von Handelsbüchern entgegen handelsrechtlichen Vorgaben wird an einem bestimmten Stichtag auf ein Rechnungsjahr hin gemessen. An diesem Stichtag wird festgestellt, ob die Bücher hinsichtlich eines Rechnungsjahres ordnungsgemäß sind und eine hinreichende Übersicht gewähren oder nicht. Die Tathandlung (fehlerhafte/unterlassene Buchführung/Bilanzierung) kann also irgendwann innerhalb dieses Rechnungsjahres erfolgen. Die Zahlungseinstellung findet, ähnlich wie der Beschluss über eine Verfahrenseröffnung, an einem Tag, also zu einem bestimmbaren Datum statt. Dies hat zur Folge, dass mehrere Ereignisse an unterschiedlichen Daten relevant werden können, nämlich die unordentliche Buchführung innerhalb eines Rechnungsjahres, der Stichtag, an dem der Mangel an Übersicht festgestellt wird und der Tag des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Nach Ansicht des RG sollte es nun darauf ankommen, dass der durch die Tathandlung verursachte Übersichtsmangel im Konkurs noch vorliegt und sich damit gerade im Moment des Konkurses offenbart. Dies kann seinen Grund nur darin haben, dass gerade im Moment des Konkurses eine Übersicht über die Vermögenslage des Schuldners aus Sicht der Gläubiger und der sonstigen Verfahrensbeteiligten von besonderer Bedeutung ist. Nur, wenn eine Übersicht gewährt werden kann, ist ein Konkursverfahren und eine etwaige Befriedigung möglich. Die Berechnung der Quote, die den Konkursgläubigern zugesprochen wird, hängt davon ab, wie viel Konkursmasse noch zur Verfügung steht. Dies kann nur unter Zuhilfenahme der Handelsbücher berechnet werden. Für den Fall aber, dass die Bücher im Zeitpunkt des Zusammenbruchs einen solchen Überblick gewähren, sollte ein früherer Verstoß gegen Buchführungsvorschriften grundsätzlich strafrechtlich irrelevant sein. Damit wird deutlich, dass für die Tatbestandsmäßigkeit des Bankrotts der Moment des Zusammenbruchs den wesentlichen Zeitpunkt markierte. Es muss im Hinblick auf die Interessen der Verfahrensbeteiligten festgestellt werden können, dass im Moment der Zahlungseinstellung die Tathandlung eine für die Gläubiger nachteilige Wirkung entfaltet hat. Der Zusammenhang beschränkt den Anwendungsbereich damit auf Fälle, in denen die betroffenen Gläubiger/Beteiligten gleichzeitig mit einer mangelhaften Übersicht über die Vermögenslage des Schuldners und einem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Schuldners konfrontiert sind.
2. Der „tatsächliche Zusammenhang“ im Rahmen des § 209 Nr. 4 KO und § 210 Nr. 2, Var. 2 KO
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In dieser Fallgruppe ging es darum, inwieweit die Vernichtung von Handelsbüchern (§ 209 Nr. 4 KO) auch noch nach Ende des Konkursverfahrens tatbestandsmäßig sein kann. Bereits das grundsätzliche Erfordernis eines „tatsächlichen Zusammenhangs“ war, im Gegensatz zur ersten Fallgruppe, in diesen Fällen heftig umstritten.