Ausgangsfall
Der Richter vernimmt Thomas, den Freund von Mona, als Zeugen. Im Protokoll vermerkt er, dass „der Zeuge den Eindruck einer wahrheitsliebenden und gewissenhaften Person vermittelt, die intellektuelles Denkvermögen besitzt und ein sicheres Erinnerungsvermögen hat.“ Wird dieser Richter nun während des Prozesses pensioniert und kommt eine neue Richterin, muss diese die Beweisaufnahme wiederholen, wenn sie den persönlichen Eindruck des Zeugen zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit in ihrem Urteil aufnehmen will.[35] Dies gilt insbesondere, wenn auf die „Urteilsfähigkeit“, das „Erinnerungsvermögen“ oder die „Wahrheitsliebe“ des Zeugen verwiesen wird.[36] Andernfalls kann die Zeugenaussage im Wege des Urkundenbeweises durch Auswertung des Vernehmungsprotokolls verwertet werden.
Auch zum Unmittelbarkeitsgrundsatz existieren Ausnahmen. So darf die Beweisaufnahme in bestimmten Fällen einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden (z.B. §§ 355 Abs. 1 S. 2, 361, 372 Abs. 2, 375, 434, 479 ZPO). Seit neuestem können die Parteien von Amts wegen (bzw. Zeugen, Sachverständige auf Antrag) auch per Videokonferenz an Terminen teilnehmen (§ 128a ZPO), sofern das Gericht über diese Technik verfügt.[37] Ein Verstoß gegen § 309 ZPO führt zu einem absoluten Revisionsgrund (§ 547 Nr. 1 ZPO).
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › VII. Grundsatz der Öffentlichkeit
VII. Grundsatz der Öffentlichkeit
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Mündliche Verhandlungen vor dem Zivilgericht sind grundsätzlich öffentlich (§ 169 GVG). Jeder Bürger soll Gelegenheit haben, „dem Richter einen Blick über die Schulter zu werfen“. Geheimgerichte, die hinter verschlossenen Türen Urteile fällen, sind in einem Rechtsstaat verboten.[38] In Familiensachen ist die Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre der Beteiligten grundsätzlich ausgeschlossen (§ 170 Abs. 1 S. 1 GVG). Die Urteilsverkündung muss aber in jedem Fall öffentlich erfolgen (§ 173 GVG). Die Idee, bei den Landgerichten Kammern für internationale Handelssachen einzurichten, die in englischer Sprache verhandeln, verstößt jedenfalls nicht gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz. Gleiches gilt für das richterliche Verbot, bestimmte Motorradkleidung (Hells Angels) im Gerichtssaal zu tragen.[39] Neuerungen bringt das Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit (EMöGG).[40] Danach bleiben Fernsehaufnahmen im Rahmen der mündlichen Verhandlung grundsätzlich weiterhin verboten (§ 169 Abs. 1 S. 2 GVG). Jedoch kann der BGH bei Urteilsverkündungen Ton- und Filmaufnahmen gestatten (§ 169 Abs. 3 S. 1 GVG). Zudem sind künftig Tonübertragungen für Journalisten in Medienarbeitsräume zulässig (§ 169 Abs. 1 S. 3 GVG). Vor Beginn und nach Schluss der mündlichen Verhandlung sind Bild- und Tonaufnahmen (in anonymisierter = gepixelter Form) möglich.[41] Aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz resultiert zudem die Pflicht der Gerichte, ihre Entscheidungen öffentlich zugänglich zu machen.[42] Ein Verstoß gegen das Öffentlichkeitsprinzip ist ein absoluter Revisionsgrund (§ 547 Nr. 5 ZPO).
Beispiel
Liest das erstinstanzliche Gericht nur den Urteilstenor vor und stellt es das mit Gründen versehene Urteil den Parteien erst später zu und dürfen nur die Parteien das Urteil auf der Geschäftsstelle einsehen, verletzt dies den Grundsatz der Öffentlichkeit, da nach Art. 6 EMRK eine öffentliche Verkündung des Urteils vorgeschrieben ist (EGMR NJW 2009, 2873).
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › VIII. Beschleunigungsgrundsatz
VIII. Beschleunigungsgrundsatz
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Jeder Gerichtsprozess benötigt eine gewisse Dauer. Eine überlange Verfahrensdauer verstößt allerdings gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und in Art. 6 EMRK verankert ist.[43] Der Beschleunigungsgrundsatz (= die Konzentrationsmaxime) verpflichtet die Gerichte, den Rechtsstreit in angemessener Zeit beizulegen. Dies gelingt nicht immer. Beim LG Würzburg wurde beispielsweise ein Prozess über einen Zeitraum von 17 Jahren geführt![44] Der „Telekom-Prozess“ hat mittlerweile eine ähnliche Länge. Welche Prozessdauer von den Parteien verfassungsrechtlich zu „erdulden“ ist, hängt vom Einzelfall ab. Nach Auffassung des BVerfG sind die Natur des Verfahrens, die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen der Dauer auf die Parteien, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Parteien zuzurechnende Verhalten (z.B. Verfahrensverzögerungen) sowie Verfahrensverzögerungen durch Dritte, vor allem von Sachverständigen, zu berücksichtigen.[45] Allgemeingültige Zeitvorgaben (1 Jahr, 2 Jahre, 4 Jahre, 7 Jahre[46]) gibt es jedenfalls nicht.
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Der Rechtsschutz gegen eine überlange Verfahrensdauer ist nun in §§ 198 ff. GVG geregelt. Unbedingt lesen! Aufgrund zahlreicher höchstrichterlicher Entscheidungen ist diese Materie hochaktuell!
Bis 2011 gab es gegen „gerichtliches Trödeln“ keinen gesetzlichen Rechtsbehelf. Manche Instanzgerichte halfen mit einer sog. Untätigkeitsbeschwerde analog §§ 567 ff. ZPO.[47] Auf Drängen des EGMR[48] hat sich der deutsche Gesetzgeber der Materie angenommen. Die rechtlichen Möglichkeiten sind nun zentral in den §§ 198 ff. GVG geregelt. Verzögerungsrüge und Entschädigungsanspruch bilden den Kern der Reform. Arbeitet ein Gericht aus Sicht einer Partei zu langsam, muss die Partei als erstes eine Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 GVG) vor dem erkennenden Gericht erheben, um auf die (zu lange) Verfahrensdauer hinzuweisen. Durch die formelle Rüge soll der Richter aufgerüttelt werden und Abhilfe schaffen. Tut er das nicht, kann die betroffene Partei in einem zweiten Schritt (frühestens 6 Monate später = § 198 Abs. 5 S. 1 GVG) klageweise einen verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch geltend machen. Er umfasst materielle sowie immaterielle Nachteile (§ 198 Abs. 1, 2 GVG), die durch die unangemessen lange Dauer eingetreten sind. Was ist unangemessen? Nach § 198 Abs. 1 S. 2 GVG richtet sich die Angemessenheit nach dem konkreten Einzelfall. Statistische Durchschnittswerte haben deshalb keine Bedeutung.[49] Ziel eines Prozesses ist es, eine materiell richtige Entscheidung zu finden. Denn die zügige Erledigung ist kein Selbstzweck; die richterliche Unabhängigkeit verlangt, dass dem Gericht je nach Komplexität ein ausreichender Bearbeitungszeitraum zur Verfügung steht.[50] Daher führt nur eine unvertretbare Verfahrensführung, die sachlich überhaupt nicht mehr zu rechtfertigen ist, zu einem Verstoß gegen § 198 GVG;[51] dazu gehören auch strukturelle Mängel (unzureichende Personalausstattung). Zuständig für die Entschädigungsklage ist das OLG bzw. der BGH (§ 201 GVG). Der Anspruch richtet sich gegen die Anstellungskörperschaft (Bund, Land) des untätigen Richters (§ 200 GVG). Die Verzögerungsnachteile müssen endgültig feststehen; die Schadenshöhe kann geschätzt werden (s. auch § 198 Abs. 2 S. 3 GVG).[52] Daneben sind u.U. Amtshaftungsansprüche aus § 839 BGB möglich.[53] Eine Untätigkeitsbeschwerde ist aufgrund der neuen Rechtslage nicht (mehr) statthaft.[54]
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In der ZPO sind zusätzlich verschiedene Vorschriften enthalten, die helfen sollen, den Prozess zu beschleunigen. Nach § 272 Abs. 1 ZPO ist der Prozess in einem einzigen mündlichen Verhandlungstermin, der möglichst früh angesetzt wird (§ 272 Abs. 3 ZPO), zu erledigen. Räumungsprozesse müssen seit 2013 vorrangig und besonders zügig behandelt werden (§ 272 Abs. 4 ZPO). Das Gericht ist nach § 273 Abs. 1, 2 ZPO gehalten, den Prozess effektiv vorzubereiten. Im Termin soll es von seiner materiellen Prozessleitung nach § 139 ZPO Gebrauch