2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › I. Die Verfahrensgrundsätze im Überblick
I. Die Verfahrensgrundsätze im Überblick
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2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › II. Dispositionsgrundsatz
II. Dispositionsgrundsatz
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Im BGB spielt der Grundsatz der Vertragsfreiheit („ich mache, was ich will“) eine wesentliche Rolle. Der Dispositionsgrundsatz ist das Ebenbild in der ZPO. Er besagt, dass jede Partei frei darüber entscheiden kann, einen Prozess zu beginnen, den Prozessgegenstand (Lieferung von Waren, Schadensersatz, Unterhalt etc.) festzulegen sowie das Ende eines Prozesses herbeizuführen. Allein die Parteien und nicht der Staat sind die Herrinnen des Verfahrens. Das Gegenstück zum Dispositionsgrundsatz ist die Offizialmaxime (= Amtsverfahren), die im Strafprozessrecht oder in Teilen der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (z.B. Nachlasssachen) vorherrscht. Bei der Offizialmaxime ist der Staat (das Gericht) der Herrscher über das Verfahren.[2]
1. Bedeutung im Einzelnen
a) Verfahrensbeginn
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Ein Zivilprozess wird nur durch Erhebung einer Klage gem. § 253 ZPO eingeleitet. Jeder Zivilprozess beruht auf der aktiven Handlung einer Partei („wo kein Kläger, da kein Richter“). Kein Gericht ist befugt, von Amts wegen ein Zivilverfahren in Gang zu setzen.
Beispiel
Der Vater von Thomas zahlt keinen Unterhalt. Das Familiengericht in Köln ist nicht befugt, von Amts wegen einen Prozess gegen den Vater einzuleiten. Das ist allein Sache von Thomas.
b) Bestimmung des Streitgegenstandes
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Der Kläger kann frei entscheiden, in welcher Sache und in welchem Umfang er Rechtsschutz begehrt. Er kann Unterhalt fordern, Schadensersatz wegen Körperverletzung verlangen oder einen Herausgabeanspruch geltend machen. Er muss sich allerdings festlegen und nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO einen bestimmten Antrag stellen („Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2400 € zu zahlen“) sowie den zugrunde liegenden Sachverhalt benennen („Kauf von mangelhaften Fliesen am 2.1.2017“). Hierdurch wird der Gegenstand des Rechtsstreits (= Streitgegenstand) bestimmt. Der Streitgegenstand ist ein Lieblingsthema der Prozessrechtswissenschaftler und wird in einem späteren Kapitel genauer behandelt. Das Gericht ist an den Antrag des Klägers nach § 308 Abs. 1 ZPO gebunden. Es darf nichts anderes oder mehr als beantragt zusprechen („ne ultra petitum“).[3] Das gilt auch im Rechtsmittelverfahren (§§ 528, 557 Abs. 1 ZPO).
Ausgangsfall
Mona hat wegen der schadhaften Fliesen Nacherfüllungskosten von 2400 € beantragt (§§ 437 Nr. 1, 439 BGB). Das Gericht darf ihr nicht einfach einen Minderungsbetrag in Höhe von 273 € zusprechen (§§ 437 Nr. 2, 441 BGB), da Mona diese Rechtsfolge gar nicht beantragt hat. Das Gericht darf allerdings weniger als beantragt zusprechen. Die Abgrenzung zwischen minus und aliud ist nicht immer leicht.[4]
c) Verfahrensbeendigung
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Die Parteien haben es auch in der Hand, dem Gericht den Rechtsstreit „wieder wegzunehmen“. So kann der Kläger seine Klage zurücknehmen (§ 269 ZPO) oder auf den geltend gemachten Anspruch verzichten (§ 306 ZPO). Im Fall eines Verzichts darf der Kläger nicht mehr mit der gleichen Sache zu Gericht. Er ist endgültig ausgeschlossen. Der Beklagte kann den Anspruch des Klägers nach § 307 ZPO anerkennen und damit einen Schlussstrich ziehen. Das prozessuale Anerkenntnis wirkt, egal ob der Anspruch in Wahrheit tatsächlich besteht oder nicht. Die Parteien können zusammen einen Prozessvergleich schließen (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) oder den Rechtsstreit übereinstimmend nach § 91a ZPO für erledigt erklären. In sämtlichen Fällen darf das Gericht nicht mehr über den ursprünglichen Antrag des Klägers entscheiden. Es muss lediglich eine Kostenentscheidung treffen.
2. Durchbrechung des Dispositionsgrundsatzes
a) Höherrangige Interessen
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In bestimmten Situationen muss der Dispositionsgrundsatz (zum Teil) durchbrochen werden, vor allem wenn es um überparteiliche, staatliche Interessen geht. In Ehe- und Kindschaftssachen ist der Grundsatz beispielsweise eingeschränkt (kein Anerkenntnis im Scheidungsprozess, § 113 Abs. 4 Nr. 6 FamFG). Da in Mietsachen sozialpolitische Erwägungen eine erhebliche Rolle spielen, ist das Gericht bei der Entscheidung über die Fortsetzung eines Mietverhältnisses (§ 308a Abs. 1 ZPO) oder über die Frist zur Räumung von Wohnraum (§ 721 ZPO) nicht an die Anträge der Parteien gebunden. Auch die Kostenentscheidung (§§ 91 ff. ZPO) ergeht von Amts wegen. Das Gericht entscheidet also unabhängig von den Parteianträgen, ob die Kosten des Rechtsstreits vom Kläger allein, vom Beklagten allein oder von beiden anteilig getragen werden müssen. Ebenso ergeht die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit (§§ 708 ff. ZPO) von Amts wegen. Das Gericht entscheidet frei darüber, ob der Kläger gegen den Beklagten sogleich vollstrecken darf, auch wenn der Beklagte in die Berufung geht und der endgültige Ausgang des Rechtsstreits ungewiss ist.
b) Richterliche Hinweispflicht
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Ein besonderes Spannungsverhältnis besteht zwischen dem Dispositionsgrundsatz und der richterlichen Hinweispflicht des § 139 ZPO. Eigentlich ist es Sache der Parteien bzw. ihrer Anwälte, richtige und vollständige Anträge bei Gericht zu stellen. Das ist manchmal aber gar nicht so einfach (selbst für Rechtsanwälte). Besonders hoch sind die Hürden bei Unterlassungsanträgen.[5] Nach § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO ist das Gericht daher verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Parteien sachdienliche Anträge stellen. Pauschale Hinweise des Gerichts reichen hierfür nicht.[6] Das Gericht kann eventuell Formulierungshilfen geben. Die Vorschrift des § 139 ZPO fordert das Gericht zu aktiver und unterstützender Verhandlungsleitung auf.[7] Es bleibt allerdings den Parteien überlassen, ob sie Nachbesserungen vornehmen.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › III. Verhandlungsgrundsatz
1. Einführung und Inhalt
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Im Zivilprozess herrscht der sog. Verhandlungsgrundsatz (= Beibringungsgrundsatz). Sein Gegenstück ist die sog. Inquisitionsmaxime (= Untersuchungs- oder Amtsermittlungsgrundsatz), die u.a. im Strafverfahren