2. Ausnahmen
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In besonders dringlichen Fällen, wie im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 937 Abs. 2 ZPO) oder in der Zwangsvollstreckung (§ 834 ZPO), wird auf eine vorherige Anhörung des Gegners verzichtet. Grund ist, dass der Zweck des Verfahrens andernfalls vereitelt werden könnte. Das rechtliche Gehör wird aber nachgeholt, wenn der Betroffene Rechtsbehelfe einlegt.
3. Rechtsbehelfe
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Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein Verfahrensfehler und muss zunächst mit den normalen Rechtsmitteln (Berufung, Revision) geltend gemacht werden. Ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (z.B. Streitwert unter 600 €), kommt die Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO in Betracht. Dieser außerordentliche „Sonderrechtsbehelf“ wurde 2002 wegen der Überlastung des Bundesverfassungsgerichts in die ZPO eingeführt und 2005 nochmals abgeändert.[26] Nun ist die Anhörungsrüge gegen alle gerichtlichen Entscheidungen (nicht nur Urteile) statthaft. Beispielsweise ist sie möglich, wenn die Berufung wegen Unterschreitens der Berufungssumme von 600 € (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) oder Nichtzulassung (§ 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) unstatthaft ist. Zweck dieses neuen Rechtsbehelfs ist eine Selbstkorrektur durch die Fachgerichte. Die Anhörungsrüge ist kein Rechtsmittel, weil ihr Devolutiv- und Suspensiveffekt fehlen.[27] Die Gehörsrüge muss binnen einer Notfrist von zwei Wochen, spätestens aber innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe der angegriffenen Entscheidung durch Einreichung eines Schriftsatzes geltend gemacht werden (§ 321a Abs. 2 ZPO). Das Verfahren findet vor dem judex a quo (vor dem Ausgangsgericht, nicht vor dem übergeordneten Gericht) statt. Weist der Betroffene eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs nach, versetzt das Gericht den Prozess in die Lage vor Schluss der mündlichen Verhandlung zurück und führt den Prozess weiter (§ 321a Abs. 5 ZPO). Die Anhörungsrüge selbst bewirkt keine weitere Verjährungshemmung.[28] Wird der Verletzung nicht abgeholfen, bleibt die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde, da nun der Rechtsweg erschöpft ist.[29] Die Anhörungsrüge kann allein wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör) erhoben werden. Die Verletzung anderer Verfahrensgrundsätze (z.B. Gebot fairen Verfahrens) wird nicht von § 321a ZPO erfasst.[30]
JURIQ-Klausurtipp
Die Anhörungsrüge = Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist ein relativ neuer Rechtsbehelf und daher in jedem Fall examensrelevant.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › V. Grundsatz der Mündlichkeit
1. Inhalt und Bedeutung
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Der Grundsatz der Mündlichkeit ist in § 128 Abs. 1 ZPO geregelt. Danach darf das Gericht seine Entscheidung grundsätzlich nur auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung treffen. Nur das mündlich Vorgetragene kann Gegenstand der Urteilsfindung sein. Ergänzend gilt das Prinzip der Einheit der mündlichen Verhandlung. Finden mehrere Verhandlungstermine statt, bilden sie insgesamt eine einzige mündliche Verhandlung (früher erster Termin, Haupttermin, Folgetermine).[31] Was also einmal gesagt wurde, bleibt für die folgenden Termine erhalten. Dementsprechend ist in § 309 ZPO normiert, dass ein Urteil nur von den Richtern gefällt werden kann, die dem letzten mündlichen Verhandlungstermin beigewohnt haben. Diese haben aufgrund der Einheit der mündlichen Verhandlung das „letzte Wort“ und damit „alles“ mitbekommen. Das Gegenstück zum Mündlichkeitsprinzip bildet das Schriftlichkeitsprinzip, das vor dem Reichskammergericht (1495–1806) Geltung hatte. Damals schrieb man dem Richter seitenweise Stellungnahmen, ohne ihn je zu Gesicht zu bekommen. Das ist heute undenkbar. Allein der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordert eine mündliche Verhandlung, in der Tatsachen und Rechtsausführungen miteinander erörtert werden. Nur dort kann der Richter seine richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO erfüllen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit ist ein wesentlicher Verfahrensmangel. Er muss durch Rechtsmittel geltend gemacht werden, ist aber kein absoluter Revisionsgrund nach § 547 ZPO.[32]
2. Ausnahmen
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Der Grundsatz der Mündlichkeit tritt an einigen Stellen in der ZPO zugunsten schriftlicher Kommunikation zurück. Das gesprochene Wort ist flüchtig und als alleinige Grundlage für die Rechtsfindung nur bedingt geeignet. Daher legt die ZPO im Rahmen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung Wert auf schriftliche Äußerungen der Parteien. So erfolgt die Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung regelmäßig durch Schriftsätze der Parteien (§§ 129 Abs. 1, 282 Abs. 2 ZPO). Das Gericht kann den Parteien Fristen für ihre schriftlichen Stellungnahmen setzen (§ 275 Abs. 1, 4 ZPO). Fragen des Gerichts zu Schriftsätzen sind rechtzeitig (schriftsätzlich) zu beantworten (§ 273 ZPO). Außerdem kann das Gericht ein schriftliches Vorverfahren anordnen (§ 276 ZPO). Hier erfolgt die Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung ausschließlich aufgrund vorbereitender Schriftsätze. Eine Bezugnahme auf Schriftsätze ist ebenfalls möglich (§§ 137 Abs. 3, 297 Abs. 2 ZPO).
Ausgangsfall
Die Anwältin von Mona erklärt in der mündlichen Verhandlung, dass sie den Antrag aus der Klageschrift vom 28.2.2017 (Blatt 1 der Akten) stellt. Sie muss den Antrag also nicht wörtlich wiederholen. Zudem stellt die vorbehaltslose Antragstellung die Bezugnahme auf den gesamten Akteninhalt dar.[33] Unter den Voraussetzungen des § 128a ZPO kann die Anwältin von Mona ihre „Botschaft“ auch per Videokonferenz (Webcam) an das Gericht übermitteln.
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In einigen wenigen Fällen kann das Gericht sogar ganz auf mündliches Vorbringen verzichten und allein aufgrund der schriftlichen Äußerungen entscheiden. So kann das Gericht eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen, wenn beide Parteien zustimmen (§ 128 Abs. 2 ZPO). Die Kostenentscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 128 Abs. 3 ZPO). Erfolgt die gerichtliche Entscheidung durch Beschluss, nicht durch Urteil, ist eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich (§ 128 Abs. 4 mit z.B. § 922 Abs. 1 ZPO). In Verfahren vor den Amtsgerichten kann das Gericht ein schriftliches Verfahren anordnen, wenn der Streitgegenstand 600 € nicht übersteigt (§ 495a S. 1 ZPO). Auf Antrag muss aber mündlich verhandelt werden (§ 495a S. 2 ZPO); andernfalls liegt eine Gehörsverletzung vor.[34] Einer mündlichen Verhandlung bedarf es auch nicht, wenn die gegnerische Partei den Klageanspruch anerkennt (§ 307 S. 2 ZPO). Ein Versäumnisurteil im schriftlichen Vorverfahren (§ 331 Abs. 3 ZPO) kann ohne mündliche Verhandlung ergehen.
2. Teil Erkenntnisverfahren › B. Verfahrensgrundsätze › VI. Grundsatz der Unmittelbarkeit
VI. Grundsatz der Unmittelbarkeit
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Nach dem Grundsatz der Unmittelbarkeit