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Die „allgemeinen Anforderungen“, von den Landesbauordnungen pauschal an den Anfang gestellt, werden in den nachfolgenden Vorschriften jeweils konkretisiert. Die Vielzahl der materiellen Vorgaben an das Bauen kann in diesem Rahmen nicht vollumfänglich dargestellt werden. Daher beschränken sich die nachfolgenden Ausführungen auf die praxis- und klausurrelevanten Vorschriften über die Abstandsflächen (II.) und das Verunstaltungsverbot (III.). Weitere bauordnungsrechtliche Anforderungen werden kurz erläutert (IV.).
II. Abstandsvorschriften
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Zu den grundstücksbezogenen Regelungen der Bauordnungen[468] gehören Vorschriften über Grundstückszugänge und -zufahrten[469], Spielflächen[470], Gemeinschaftsanlagen[471] und Ähnliches. Vor allem befassen sie sich aber mit Abstandsflächen. Als Abstandsflächen bezeichnet man diejenigen Flächen, die vor den Gebäudeaußenwänden von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten sind[472]. Abstandsflächenregelungen gehören zu den klassischen Gegenständen des Bauordnungsrechts, weshalb auch alle Landesbauordnungen recht ausführliche Regelungen zu diesem Thema enthalten[473]. Von diesen im Folgenden zu behandelnden bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften zu unterscheiden ist das sich aus der Seveso-III-Richtlinie ergebende Abstandsgebot zwischen Wohngebieten u. Ä. einerseits zu Betrieben mit gefährlichen Stoffen andererseits[474]. Bei diesem europarechtlich gebotenen Sicherheitsabstand geht es um eine (auch) im Genehmigungsverfahren[475] zu berücksichtigende bauplanungsrechtliche Abwägung[476].
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Insgesamt können vier Zwecke unterschieden werden, die das Abstandsflächenrecht verfolgt:[477] Brandschutz, ausreichender Lichteinfall, Belüftung und die Gewährung von ,Sozialabständen‘ (str., s.u. Fn. 501). Damit geben die Abstandsflächen beispielhaft die bauordnungsrechtlichen Funktionen der Gefahrenabwehr, aber auch der Wohlfahrtspflege wieder[478]. Allerdings wird die Rechtslage dadurch verkompliziert, dass auch das Bauplanungsrecht Festsetzungen im Bebauungsplan über die Anordnung von Bauwerken mit Hilfe von Baulinien[479], Baugrenzen[480] und Bebauungstiefen[481] zulässt (siehe § 23 Abs. 1 S. 1 BauNVO). Die Baulinien können auch zu einer geschlossenen Figur zusammengefügt werden, was als Baukörperausweisung bezeichnet wird. Ferner können im Bebauungsplan explizit Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen festgesetzt werden (§ 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB)[482]. Schließlich gibt § 22 Abs. 1 BauNVO für die Planung die Wahl zwischen der offenen Bauweise, die einen seitlichen Grenzabstand – den sog. Bauwich – verlangt, und der geschlossenen Bauweise. Insgesamt liegt damit eine Verzahnung von Bauplanungs- und Bauordnungsrecht vor[483].
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Am anschaulichsten lässt sich das Ineinandergreifen von Bauplanungs- und Bauordnungsrecht bei der offenen Bauweise zeigen. Während die offene Bauweise und damit auch die Gebäudeabstände im Bebauungsplan festgesetzt werden, ergeben sich die einzuhaltenden Abstandsflächen aus den Landesbauordnungen. Allerdings verläuft dieses Zusammenspiel von Bauordnungs- und Bauplanungsrecht nicht immer widerspruchsfrei, was Vorrangregelungen erforderlich macht. Fast alle Landesbauordnungen räumen einen Vorrang des Bauplanungsrechts ein[484], d.h. die Festsetzungen im Bebauungsplan oder anderen städtebaulichen Satzungen setzen sich durch. Findet sich, wie in Niedersachsen, keine Vorrangregelung, gelten bauplanungsrechtliche und bauordnungsrechtliche Abstandsregelungen nebeneinander[485]. Dies ist dann unproblematisch, wenn die Gemeinden größere Abstandsflächen als die bauordnungsrechtlich geforderten Mindestabstände festsetzen[486]. Enthält ein Bebauungsplan hingegen geringere Abstände, kann zum einen eine Lösung über Abweichungsregeln in der Bauordnung gefunden werden[487]. Zum anderen wird überwiegend angenommen, dass die Festsetzungen in den Bebauungsplänen auf Grundlage von § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB die bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften verdrängen[488]. Für den Fall der Festsetzung einer geschlossenen Bauweise im Bebauungsplan (§ 22 Abs. 3 BauNVO) sehen alle Bauordnungen Vorrangregelungen zugunsten der planungsrechtlichen Vorschriften vor[489]. Sofern kein Bebauungsplan vorliegt, gilt dieser Vorrang auch für den durch die tatsächlich vorhandene Bebauung gebildeten baulichen Rahmen, auf den die Planersatzvorschrift des § 34 Abs. 1 S. 1 BauGB abstellt[490]. Manche Bauordnungen sehen darüber hinaus vor, dass hinsichtlich des Abstands die vorhandene Bebauung auf dem Nachbargrundstück maßgeblich ist, wenn diese nicht mit den planungsrechtlichen Vorgaben übereinstimmt[491].
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Grundsätzlich müssen die Abstandsflächen auf den Baugrundstücken selbst liegen[492], wobei sie sich auch auf angrenzende öffentliche Verkehrs-, Grün- und Wasserflächen erstrecken dürfen (jedoch nur bis zu deren Mitte)[493]. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, Abstandsflächen auf angrenzenden Grundstücken anzurechnen, wenn öffentlich-rechtlich, insbesondere durch eine Baulast[494], abgesichert ist, dass diese Flächen weder überbaut werden dürfen noch als Anrechungsfläche für die baulichen Anlagen des eigenen Grundstücks dienen[495]. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, welche Auswirkung es auf Bauvorhaben eines Bauherrn hat, wenn sein Nachbar gegen den Grundsatz, dass die Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück liegen müssen, verstoßen hat, etwa weil er die Tiefe der Abstandsfläche falsch berechnet hat. Während vor allem früher vertreten wurde, dass in diesem Fall der Bauherr die entsprechenden Flächen auf seinem Grundstück freizuhalten habe[496], kommt die überwiegende Meinung nun zum Ergebnis, dass sich die Abstandsfläche in diesem Fall nicht auf das Grundstück des Bauherrn erstrecke, der Bauherr diese Flächen auf seinem Grundstück also nicht freihalten müsse[497]. Dieser Ansicht ist zuzustimmen – eine Erstreckung würde zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Bauherrn führen.
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Die Regelungen über die Abstandsflächen in den Landesbauordnungen sind im ständigen Fluss,[498] teilweise verursacht durch Änderungen der Musterbauordnung. Nachdem die MBO 1981 mit der Einführung von einheitlichen Abstandsflächen die Unterscheidung zwischen Grenzabständen (Bauwich) und Abstandsflächen aufgegeben hat, verringerte die MBO 2002 im Zeichen der Deregulierung die Abstandsflächentiefe. Die Regeltiefe wurde von 1 H[499] auf 0,4 H reduziert[500], wobei der maßgebliche Mindestabstand 3 m beträgt, in Baden-Württemberg und Hamburg sogar nur noch 2,5 m[501]. Zweck der Reduzierung war es, nur noch das „sicherheitsrechtlich Unerlässliche“ zu regeln[502], während in den herkömmlichen größeren Abstandsflächen ein städtebaulicher Überschuss erblickt wurde. Es sei nicht Aufgabe des Bauordnungsrechts, städtebauliche Nebenzwecke zu verfolgen und vor diesem Hintergrund von gehobenen Qualitätsstandards auszugehen[503]. Diese Argumentation kann freilich nicht überzeugen: Zwar streitet auf den ersten Blick das Verhältnismäßigkeitsprinzip für die Auffassung der Fachkommission Bauaufsicht, der ARGEBAU, das (Bau-)Polizeirecht auf das erforderliche Minimum zu beschränken. Bei näherem Hinsehen wird aber erkennbar, dass lediglich der Deregulierungsmode gefolgt wurde; denn ob das „sicherheitsrechtlich Unerlässliche“ nun bei 0,4 H, 0,5 H oder mehr liegt, können auch keine Sachverständigen ermitteln; hier besteht ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers. Die deregulierende MBO geht aber insoweit in die falsche Richtung – zulasten der oben genannten Ziele des Abstandsflächenrechts. Zwar verweisen die Länder auf die Möglichkeit der Kommunen, über örtliche Bauvorschriften größere Abstandstiefen einzuführen[504]. In der Praxis erweist sich diese Hoffnung indes als unrealistisch[505]. Ganz im Gegenteil finden sich Belege dafür, dass die nach Bauordnungsrecht einzuhaltenden Abstandsflächen durch kommunale Planungen sogar noch verringert