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Diese Spezialbefugnis ermöglicht es der Behörde, die Bauarbeiten zu unterbrechen und sie auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Dabei kann eine Prüfung auch zu dem Ergebnis führen, dass eine Anlage doch baurechtmäßig ist. Dennoch muss auch in einem solchen Fall, in dem lediglich Zweifel an der formellen bzw. materiellen Baurechtswidrigkeit bestehen, eine Baueinstellung möglich sein[614]. Sonst wäre die Sicherungsfunktion der Baueinstellungsbefugnis in Frage gestellt. Jedoch muss die Behörde in der Folge die Maßnahme verfahrensmäßig unter Kontrolle halten und sie aufheben, sobald die Zweifel ausgeräumt sind[615]. Andernfalls kann der Bauherr einen Amtshaftungsanspruch geltend machen, dem nicht entgegensteht, dass er die – faktisch aufgrund der Suspensivwirkung des Widerspruchs gegen die Baueinstellung bestehende – Möglichkeit zum Weiterbauen nicht nutzt[616]. Im Übrigen wird es schon dem Wortlaut nach („einstellen“) regelmäßig darum gehen, eine bereits begonnene Errichtung (oder einen Abbruch) zu beenden; allerdings ist anerkannt, dass auch vor Aufnahme der Bauarbeiten eine Untersagungsverfügung auf diese Spezialbefugnis – in entsprechender Anwendung – gestützt werden kann[617]. Eine derartige Analogie ist allerdings mangels Regelungslücke nicht notwendig: Vielmehr erscheint in einer solchen Konstellation die Anwendung der baupolizeilichen Generalklausel vorzugswürdig.
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Wie bereits erwähnt (Rn. 117), stellt sich die Frage, ob auch die Errichtung oder der Abbruch einer bloß formell baurechtswidrigen Anlage eingestellt werden darf. Das ist uneingeschränkt zu bejahen[618]. Zum einen liegt schon bei formeller Baurechtswidrigkeit ein „Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ vor; zum anderen dient die Baueinstellung gerade (auch) dem Zweck, die Genehmigungspflichtigkeit von baulichen Anlagen – soweit sie denn noch besteht – durchzusetzen. Schließlich führt die Baueinstellung zu keinem Substanzverlust beim Bauherrn, so dass das gefundene Ergebnis auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit überzeugt.
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Es sind verschiedene Konstellationen denkbar, die zur formellen Baurechtswidrigkeit führen. Der typische Fall ist die fehlende Baugenehmigung. Auch der Fall der Nichteinhaltung einer erteilten Baugenehmigung fällt unter die formelle Baurechtswidrigkeit, weil für den Teil der Überschreitung keine Genehmigung vorliegt[619]. Gleiches gilt, wenn im Genehmigungsfreistellungsverfahren (Bauanzeigeverfahren, Kenntnisgabeverfahren) von dem angezeigten Vorhaben abgewichen wird[620] oder wenn das Vorhaben bei der Behörde überhaupt nicht angezeigt und die erforderlichen Unterlagen nicht eingereicht wurden[621]. Formell baurechtswidrig sind Bauarbeiten auch dann, wenn der Bauherr trotz der angeordneten aufschiebenden Wirkung des Nachbarwiderspruchs weiterbaut[622]. Schließlich ist an diejenige Konstellation zu denken, in der zwar die erforderliche Baugenehmigung vorliegt, es aber an einer anderen Genehmigung oder Gestattung fehlt[623].
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Die Einstellungsverfügung kann ebenso auf die materielle Baurechtswidrigkeit gestützt werden. Wegen der Legalisierungswirkung der Baugenehmigung wird die überwiegende Anzahl der Fälle dieser Konstellation aus genehmigungs- oder verfahrensfreien Vorhaben bestehen[624]. Doch auch wenn eine Baugenehmigung erteilt wurde, sind Konstellationen einer materiellen Baurechtswidrigkeit denkbar: Soweit der Bauherr die Baugenehmigung überschreitet, liegt nicht nur ein Fall formeller, sondern ggf. zusätzlich ein Fall materieller Baurechtswidrigkeit vor, sofern die Überschreitung nicht genehmigungsfähig wäre. Dass die Überschreitung als Abweichung genehmigungsfähig wäre, ändert an der (vorläufigen) materiellen Baurechtswidrigkeit nichts[625]. Materielle Baurechtswidrigkeit liegt auch bei Verstößen gegen Vorschriften vor, die nicht Teil des Prüfprogramms sind und damit nicht der Legalisierungswirkung der (vereinfachten) Baugenehmigung unterfallen[626].
2. Die Nutzungsuntersagung
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Auch die Nutzungsuntersagung ist als spezieller Eingriffstatbestand in allen Bundesländern geregelt[627]. Diese Spezialbefugnis ermöglicht es der Bauaufsichtsbehörde, die Nutzung zu untersagen, wenn eine Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt wird. Wie bei der Baueinstellung, so stellt sich auch bei der Nutzungsuntersagung die Frage, ob die bloß formelle Baurechtswidrigkeit für ein Eingreifen der Bauaufsichtsbehörde ausreicht. Bei der Nutzungsuntersagung ist die Antwort allerdings umstritten. Überwiegend wird das bejaht[628], teilweise aber zusätzlich eine materielle Baurechtswidrigkeit gefordert[629]. Eine vermittelnde Ansicht hält die bloß formelle Baurechtswidrigkeit für ausreichend, will allerdings auf Seiten des Ermessens berücksichtigen, wenn die materielle Baurechtmäßigkeit der Nutzung offensichtlich ist, sich also geradezu aufdrängt[630].
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An der herkömmlichen Auffassung, wonach auf Tatbestandsseite bereits eine bloß formelle Baurechtswidrigkeit die Bauaufsichtsbehörde zum Einschreiten ermächtigt, ist festzuhalten. Für die traditionelle Sichtweise spricht vor allem, dass andernfalls das partiell noch bestehende System der präventiven Genehmigung, die stets auch[631] eine bestimmte Nutzung umfasst, in Frage gestellt würde[632]. Das Argument, dass bereits der Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) das hier gefundene Ergebnis verlange[633], überzeugt dagegen nicht vollständig: Denn ob der Staat aus Gründen des Vorrangs des Gesetzes zum Einschreiten aufgrund der Nutzungsuntersagung berechtigt ist, soll ja erst durch Gesetzesauslegung ermittelt werden. Zentral erscheint dagegen das Argument, dass derjenige Bürger, der ohne Baugenehmigung (baut und) nutzt, zeitlich nicht bessergestellt werden darf als der gesetzestreue Bürger (Art. 3 Abs. 1 GG)[634]. Dass die Nutzungsuntersagung aufgrund formeller Baurechtswidrigkeit für den Bauherrn gegebenenfalls durch die zeitliche Verzögerung mit einer Vermögenseinbuße verbunden ist, spricht also nicht gegen die hier vertretene Ansicht[635]. Letztlich handelt es sich um diejenige Zeiteinbuße, die der Gesetzgeber den Bauherren großer Vorhaben – für kleine Vorhaben hat ohnehin die Deregulierung zum Abschied von der Genehmigungsbedürftigkeit geführt – mit dem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zumuten darf. Was die Rechtsfolge betrifft, so gilt für die Nutzungsuntersagung nichts anderes als für die Baueinstellungsverfügung: Im Vergleich zur Beseitigungsanordnung wirkt eine Nutzungsuntersagung mangels Substanzverletzung weit weniger intensiv. Gleichwohl ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine evidente materielle Baurechtmäßigkeit im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen[636].
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Als formelle Verstöße kommen dabei dieselben Fälle wie bei der Baueinstellung in Betracht[637]. Freilich rücken angesichts der Deregulierung Nutzungsuntersagungen, die auf einer materiellen Baurechtswidrigkeit beruhen, verstärkt ins Blickfeld. In den Genehmigungsfreistellungsverfahren bzw. bei verfahrensfreien Vorhaben scheidet mangels Genehmigung eine Legalisierungswirkung aus, so dass auf die gesamte materielle Rechtslage zurückgegriffen werden kann. Gleiches gilt, soweit eine Baugenehmigung überschritten ist[638]. Ähnlich liegt die Konstellation des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens: Wegen des beschränkten Prüfungsumfangs und der entsprechend beschränkten Legalisierungswirkung kann jenseits der Grenzen der Baugenehmigung auf die materielle Rechtslage abgestellt werden, wenn es um die Nutzungsuntersagung geht. Es ist bereits darauf hingewiesen worden[639], dass für die Rechtswidrigkeit der Nutzung in den meisten Ländern das gesamte Öffentliche Recht relevant ist, nicht allein das Baurecht, da die Befugnisnormen zumeist pauschal auf den Widerspruch zu „öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ abstellen[640].
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Als Rechtsfolge umfasst die Nutzungsuntersagung die Beendigung jeder rechtswidrigen Nutzung der baulichen Anlage bzw. des Grundstücks. Die Verfügung kann auch die Entfernung von Gegenständen beinhalten,