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Neben den Verunstaltungsverboten kennen die meisten Landesbauordnungen das Instrument der örtlichen Bauvorschriften, die von den Gemeinden zur Durchführung baugestalterischer Absichten oder zum Schutz bestimmter Bauten erlassen werden können[538]. In einer eigenständigen Gestaltungssatzung oder – sofern das Landesrecht von der Möglichkeit des § 9 Abs. 4 BauGB Gebrauch gemacht hat[539] – im Bebauungsplan können bestimmte Gestaltungen ausgeschlossen oder vorgeschrieben werden[540].
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Gesonderte Erwähnung in den Anforderungen der Bauordnungen finden Werbeanlagen[541]. Dies erklärt sich daraus, dass sie schon aufgrund ihres Zwecks besonders auffällig gestaltet und damit in besonderem Maße geeignet sind, verunstaltend zu wirken[542]. Die diesbezüglichen Regelungen gelten auch für Werbeanlagen, die keine baulichen Anlagen sind[543]. Einige Bauordnungen verbieten – neben der Verunstaltung durch einzelne Werbeanlagen bzw. durch deren „störende Häufung“[544] – außerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile sowie in Kleinsiedlungs-, Dorf- oder Wohngebieten sogar jede Werbung, die sich nicht an der Stätte der Leistung selbst befindet[545].
IV. Sonstige materiell-rechtliche Anforderungen
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Abgesehen vom bisher behandelten Abstandsflächenrecht sowie vom Verunstaltungsverbot enthalten die Bauordnungen weitere materielle Anforderungen[546]. Insbesondere die primäre Funktion des Bauordnungsrechts, die Gefahrenabwehr, verlangt eine Vielzahl detaillierter Regelungen. Besondere Vorgaben werden etwa an Baustellen[547], Standsicherheit[548], Immissions- und Brandschutz[549] sowie die Verkehrssicherheit der Grundstücke und Gebäude[550] gemacht. Hinzu treten Vorschriften über die Beschaffenheit und Anordnung von Bauteilen und Räumen, die der Gefahrenabwehr, aber auch Sozial- und Wohlfahrtspflege dienen. Während beispielsweise die Regelungen über die Errichtung u.a. von Wänden, Dächern, Fenstern, Lüftungs- und Feuerungsanlagen[551] vorrangig auf die Standsicherheit und den Brand- und Immissionsschutz abzielen, sollen Anforderungen an Aufenthaltsräume, Wohnungen und Toilettenräume[552] gesunde Wohnverhältnisse gewährleisten[553].
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Weil auch von Bauprodukten Gefahren ausgehen können, regeln die Landesbauordnungen im Einzelnen, welche Produkte beim Bau verwendet werden dürfen[554]. Es soll sichergestellt werden, dass gebrauchstaugliche Produkte eingesetzt werden, damit die baulichen Anlagen über einen angemessenen Zeitraum hinweg die Anforderungen der Landesbauordnungen einhalten können[555]. Das Recht der Bauprodukte ist in besonderem Maße von europäischen Vorgaben geprägt[556]. So verweisen die Bauordnungen für die Definition der Bauprodukte auf die Bauproduktenverordnung (VO (EU) Nr. 305/2011[557]) und definieren Bauprodukte in ihrem Sinne als Baustoffe, Bauteile und Anlagen sowie Bausätze gemäß Art. 2 Nr. 2 der VO, die hergestellt werden, um dauerhaft in bauliche Anlagen eingebaut zu werden, aber auch entsprechende vorgefertigte Anlagen wie Fertighäuser[558]. Die Bauproduktenverordnung dient dabei der Harmonisierung des europäischen Binnenmarkts für Bauprodukte und folgt dem Konzept der „Harmonisierung durch Normung“[559]. Die in der Verordnung allgemein gehaltenen Sicherheitsanforderungen an die Bauwerke[560] werden hierzu durch Normungsaufträge und harmonisierte technische Spezifikationen konkretisiert[561]. Die EU-Kommission kann delegierte Rechtsakte u.a. für die Festlegung von wesentlichen Merkmalen oder Schwellenwerten für bestimmte Familien von Bauprodukten erlassen[562]. Die technischen Spezifikationen werden von den europäischen Normungsgremien, insbesondere dem Europäischen Komitee für Normung (CEN), im Auftrag der EU-Kommission erarbeitet und im Amtsblatt der EU veröffentlicht[563]. Sie sind nach Einschätzung des EuGH Teil des Unionsrechts und können von ihm ausgelegt werden[564]. Angesichts des Umstands, dass das CEN ein Verein nach belgischem Recht ist, wird die Einordnung als Rechtsnorm unter Legitimationsgesichtspunkten bisweilen kritisch hinterfragt[565]. Denn zum Schutz des geistigen Eigentums der Normungsorganisation wird lediglich die Fundstelle im Amtsblatt der EU veröffentlicht, der Volltext der Normen ist dagegen nur gegen Geld zugänglich[566].
Ist ein Bauprodukt von einer harmonisierten Norm erfasst (oder entspricht es einer einschlägigen Europäischen Technischen Bewertung[567]), ist der Hersteller verpflichtet, eine Leistungserklärung für das Bauprodukt zu erstellen[568], bevor er ein CE-Kennzeichen am Bauprodukt anbringen darf[569]. Den Mitgliedstaaten ist es nach Art. 8 Abs. 4 der Bauproduktenverordnung verwehrt, Bauprodukte mit CE-Kennzeichnung zu untersagen oder zu behindern[570]. Dementsprechend kam der EuGH im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens zu dem Ergebnis, dass Deutschland dadurch gegen die Bauproduktenrichtlinie verstieß, dass die Bauordnungen (durch ihre Verweisung auf sog. Bauregellisten) zusätzliche Anforderungen hinsichtlich des Marktzugangs und der Verwendung auch solcher Bauprodukte aufstellten, die bereits von harmonisierten Normen erfasst und mit der CE-Kennzeichnung versehen waren[571]. In der Folge kam es zur Novellierung der Landesbauordnungen. Diese verweisen nunmehr auf die Bauproduktenverordnung und stellen klar, dass Bauprodukte, die die CE-Kennzeichnung aufgrund der BauproduktenVO tragen, von näher bezeichneten nationalen Anforderungen ausgenommen sind[572]. Bauprodukte ohne CE-Zeichnen können demgegenüber nur bei Übereinstimmung mit diesen nationalen Anforderungen verwendet werden. Für einen Übereinstimmungsnachweis bedarf es dann eines staatlichen Zertifikats oder einer Übereinstimmungserklärung des Herstellers[573]. Insgesamt kommt den privaten Normungsregeln europäischer Herkunft auf mitgliedstaatlicher Ebene eine ungleich stärkere Wirkung zu als den technischen Baubestimmungen im deutschen Bauordnungsrecht[574].
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Daneben verfolgen einige Vorschriften der Landesbauordnungen ausschließlich sozial- oder wohlfahrtspflegerische Ziele. Neben den Vorschriften über barrierefreie Anlagen[575], die den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Kleinkindern, Menschen mit Behinderungen oder alten Menschen Rechnung tragen, sind vor allem die Regelungen zu den Stellplätzen bzw. Garagen[576] bedeutsam[577]. Die Notwendigkeit derartiger Normen in Bauordnungen ergibt sich aus dem Einfluss baulicher Anlagen auf den Straßenverkehr: Sie verursachen Zu- und Abfahrtsverkehr. Klassischerweise sehen die Regelungen vor, dass die Bauherren bei der Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung baulicher Anlagen grundsätzlich zur Aufnahme des anfallenden Kraftverkehrs Stellplätze oder Garagen[578] auf dem Baugrundstück oder in dessen Nähe schaffen müssen. Die Stellplatzverpflichtung wird in der Regel als Nebenbestimmung zur Baugenehmigung realisiert[579]. Da die Errichtung von Parkmöglichkeiten aus verschiedenen Gründen häufig nicht durchführbar oder unzumutbar ist, ermöglichen die Bauordnungen die Ablösung der Stellplatzverpflichtung durch Entrichtung eines zweckgebundenen Geldbetrags an die Gemeinde, um anderweitige Parkmöglichkeiten zu schaffen[580]. Die Ablösung kann durch einen öffentlich-rechtlichen Vertrag des Bauherrn mit der Gemeinde geschehen[581].
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Die Regelungen zu Stellplatzverpflichtung und Ablösungsrecht unterscheiden sich in den Bauordnungen mittlerweile beträchtlich[582]. Grund hierfür ist unter anderem, dass mit Hilfe von Stellplatzreduzierungen versucht wurde, das Ansteigen des motorisierten Individualverkehrs einzudämmen[583]. Für Aufsehen hat etwa die Regelung in Berlin gesorgt, der zufolge nunmehr allein bei der Errichtung öffentlich zugänglicher Gebäude Stellplätze einzurichten sind, und dies nur für schwer Gehbehinderte und Behinderte mit Rollstuhl sowie für Fahrräder[584]. Eine weitere Diversifizierung der Stellplatzregelungen ergibt sich durch die in vielen Bauordnungen vorgesehene Satzungsermächtigung für die Kommunen zur Regelung der Stellplatzverpflichtungen[585].
I. Überblick
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