OLG Brandenburg FamRZ 2001, 40; BtPrax 2000, 224.
B. Das gerichtliche Verfahren bis zur Bestellung eines Betreuers › VII. Das Sachverständigengutachten › 8. Pflicht des Gerichts zur Überprüfung des Sachverständigengutachtens
8. Pflicht des Gerichts zur Überprüfung des Sachverständigengutachtens
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Einem Betreuungsrichter obliegt es, vorhandene ärztliche Stellungnahmen verantwortlich auf ihre wissenschaftliche Fundierung, Logik und Schlüssigkeit zu überprüfen.[1] Das Ergebnis eines Sachverständigengutachtens darf vom Gericht nicht einfach übernommen werden; der Richter ist vielmehr zu einer kritischen Würdigung verpflichtet.[2]
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§ 280 Abs. 3 FamFG gibt eine Richtlinie für den Inhalt eines Gutachtens in Betreuungssachen, falls nach Auffassung des Sachverständigen die Bestellung eines Betreuers in Betracht kommt:[3] In diesem Falle hat sich das Gutachten auf den Umfang der Aufgabenkreise und die voraussichtliche Dauer der Betreuungsbedürftigkeit zu erstrecken. Damit soll erreicht werden, dass der Aufgabenkreis des Betreuers den Bedürfnissen des Betroffenen entspricht und eine unnötige zeitliche Ausdehnung der Betreuung vermieden wird.
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Die Prognose über die Dauer der Betreuung muss die gesamte Situation des Betroffenen, die weitere Entwicklung seines Zustandes und auch erforderliche Rehabilitationsmaßnahmen berücksichtigen. In jedem Falle muss der Sachverständige in seinem Gutachten darlegen, von welchen Anknüpfungstatsachen er ausgeht, welche Befragungen und Untersuchungen vorgenommen, welche Tests und Forschungsergebnisse angewandt und welche Befunde erhoben wurden. Der Krankheitsverlauf mit bisheriger Therapie und die Diagnose sind zu bezeichnen. Nur dann ist das Gericht in der Lage, das Gutachten zu überprüfen und sich das erforderliche eigene Bild von der Richtigkeit der vom Sachverständigen gezogenen Schlüsse zu machen. Auf die obigen Ausführungen zum Inhalt eines Sachverständigengutachtens wird verwiesen.
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Beispiel
Bruno G. erleidet einen Schlaganfall und kann sich auf Grund einer Beeinträchtigung des Sprachzentrums nicht verständigen. Das dem Gericht vorzulegende Gutachten muss sich in einem solchen Fall unbedingt mit der Frage der Rehabilitation des Betroffenen auseinandersetzen.
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Hinweis
Für die Überprüfung von Verfahrensfehlern im Rahmen einer Betreuungsanordnung heißt dies, dass ein Verstoß gegen § 280 FamFG als Verfahrensfehler zu qualifizieren ist, der das Beschwerdegericht in aller Regel zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung nötigt.
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Der renommierte Psychiater Nedopil[4] stellt folgende Anforderungen an die praktische Durchführung eines Gutachtenauftrags:
– | Nur ein erfahrener Neurologe und Psychiater ist in der Lage, umfangreiche Unterlagen durchzusehen, ohne sich in Details zu verlieren; |
– | besonders wichtig ist die Information des Sachverständigen über die so genannten Anknüpfungstatsachen. Hierbei handelt es sich um Informationen, die von Gerichten, Nachbarn oder irgendwelchen Dritten zugetragen wurden und in den Akten ihren Niederschlag finden. Von diesen Anknüpfungstatsachen hat der Gutachter auch bei seinen Darlegungen auszugehen. Insbesondere ist darauf zu achten, dass einseitige Parteiaussagen nicht als bewiesene Tatsachen aufgeführt werden; |
– | eine sorgfältige gutachterliche Untersuchung bedarf einer gewissen Zeit. Eine sorgfältige Beurteilung eines zuvor unbekannten Menschen kann kaum im Rahmen einer ein- oder zweistündigen Untersuchung gelingen.[5] |
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Hinweis
Im Rahmen der Überprüfung der Betreuungsanordnung auf Verfahrensfehler ist stets in den Verfahrensakten auch die Kostennote des Gutachters zu überprüfen.
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Die Gutachter sind gehalten, nach Maßgabe des § 9 JVEG unter Bezifferung ihres Zeitaufwandes abzurechnen. Auf diesem Wege kann ersehen werden, wie lange der Betroffene exploriert wurde. Meist wird nach Honorargruppe M 2 ein Stundenhonorar von 75,00 € abzurechnen sein. Der Sachverständige hat den Probanden über seine Rechte und über die Aufgaben des Gutachters aufzuklären. Es ist darauf hinzuweisen, dass die ärztliche Schweigepflicht nicht besteht.[6]
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Hinweis
Man sollte überprüfen, ob sich in dem Gutachten ein dementsprechender Hinweis befindet.
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Zusammenfassend hat ein Richter also folgendes bei einem Gutachten zu überprüfen:
– | Ordnungsgemäße Fertigung und rechtliche Verwertbarkeit, |
– | Schlüssigkeit unter logischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive, |
– | Erstellung unter Beachtung der Regeln der psychiatrischen Wissenschaft. |
Die Kontrolldichte nimmt entsprechend den drei genannten Stufen jeweils ab.
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Weist ein Gutachten Mängel auf oder vermag es nicht zu überzeugen, muss das Gericht dem Sachverständigen seine Bedenken mitteilen und ggf. auf eine Ergänzung des Gutachtens hinwirken.[7] Ferner kann eine mündliche Erläuterung des Gutachtens angezeigt sein, um Unklarheiten abzuklären. Sollten sich die sachlichen Informationen des Gutachtens als unbrauchbar erweisen, ist das Gericht zur Beauftragung eines weiteren Sachverständigen verpflichtet (§ 412 Abs. 1 ZPO).[8] Widerspricht das neue Gutachten den Feststellungen des ursprünglichen Gutachtens, kann die Einholung eines Obergutachtens angezeigt sein.[9] Führt dieses Vorgehen zu unverhältnismäßigen Belastungen des Betroffenen, kann hiervon abgesehen werden.[10]
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Aus alledem ergibt sich, dass der Richter von einem Sachverständigengutachten abweichen kann, wenn er von dessen Richtigkeit nicht überzeugt ist. Ergeben sich beispielsweise aus dem Gutachten genügend Anknüpfungstatsachen für eine abweichende Bewertung der Frage der freien Willensbestimmung, ist das Gericht nicht an einer abweichenden Bewertung gehindert.[11] Allerdings berechtigt die dem Amtsrichter obliegende sorgfältige und kritische Überprüfung des Sachverständigengutachtens im Umkehrschluss nicht, die Äußerungen des Sachverständigen einfach sang- und klanglos beiseite zu schieben. Sofern das Gericht einem Gutachten nicht zu folgen beabsichtigt, muss es seine abweichende Überzeugung ausreichend begründen und hierbei erkennen lassen, dass die eigene Beurteilung nicht von mangelnder Sachkunde beeinflusst ist.[12] Der BGH führte hierzu in der obengenannten Entscheidung das Nachstehende aus:
Das Gericht ist zwar nicht gehindert, eine vom Ergebnis des Gutachtens abweichende Bewertung auch zur Frage der freien Willensbestimmung vorzunehmen, wenn sich aus dem Gutachten genügend Anknüpfungstatsachen für eine abweichende Bewertung ergeben (vgl. OLG München FGPrax 2007, 267, 268). Will der Tatrichter allerdings einem Sachverständigengutachten nicht folgen, muss er eine von dem eingeholten Sachverständigengutachten abweichende Beurteilung in seiner Entscheidung sachkundig und ausführlich begründen.“
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