I. Die Stellung der Europäischen Union in der niederländischen Rechtsordnung
Übersetzt von Philipp Graf; redaktionell bearbeitet von Andreas Engel und Dr. Ferdinand Wollenschläger. Abkürzungen (in Ergänzung zu dem Beitrag von Leonard Besselink, § 6 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Niederlande): EHRR European Human Right Reports SEW SEW Tijdschrift voor Europees en economisch recht.
1. Das Verhältnis zwischen der niederländischen Rechtsordnung und dem Völkerrecht
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Die Niederlande nehmen gegenüber dem Völkerrecht traditionell eine offene Haltung ein. Seit dem 17. Jahrhundert ist die internationale Stellung der Niederlande geprägt durch eine Kultur des Welthandels, was dazu führte, dass fremde (kulturelle) Einflüsse von den Niederländern vorbehaltlos angenommen wurden. Einige Autoren bringen diese offene Grundhaltung sogar mit dem nur schwach ausgeprägten Nationalgefühl der Niederländer in Verbindung, bei denen auch die Nationalsymbole (wie die Landesflagge und die Nationalhymne) vielleicht etwas weniger in Ehren gehalten werden als in anderen Ländern. Der niederländische Außenminister von 1956 bis 1971, Joseph Luns, scherzte gerne, dass die offene Haltung gegenüber dem Ausland schlicht und einfach auf die Tatsache zurückzuführen sei, dass das Ausland aus der Sicht der kleinen Niederlande verhältnismäßig groß ist. Jedenfalls wird der starke Rückhalt, den das Völkerrecht bei den Niederländern findet, auf die Verbindung zweier Eigenschaften der Niederländer zurückgeführt: Sie sind ein gesetzestreues Volk. Als kleiner Handelsstaat mit nur unzureichenden militärischen Fähigkeiten sind sie jedoch auch auf den durch das Völkerrecht gewährten Schutz angewiesen.[1] Die Offenheit der Verfassung ist ein fester Bestandteil der niederländischen Rechtskultur, was zum einen erklärt, dass über dieses Thema kaum (oder sogar überhaupt nicht) diskutiert wird. Zum anderen liegt es daran, dass die Verfassung für viele Rechtsinstitute keine Regelungen enthält.[2] Weder die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft noch die damit einhergehende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur unmittelbaren Geltung und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts nahm die communis opinio zum Anlass, über diese Fragen ernsthaft zu diskutieren.
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Die Außenbeziehungen sind in den Art. 90 bis 96 der niederländischen Verfassung (Grondwet) geregelt. Bezeichnenderweise bezieht sich die erste Regelung dieses Abschnitts nicht auf die nationale, sondern auf die internationale Rechtsordnung. In Art. 90 heißt es: „Die Regierung fördert die Weiterentwicklung des Völkerrechts.“ Diese Bestimmung wurde zwar 1953 in die Verfassung eingefügt, doch verlieh sie nur dem traditionellen Selbstverständnis der Niederlande als Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft Ausdruck.[3] Schon die Verfassung aus dem Jahre 1922 enthielt eine ähnliche Bestimmung.[4] Ansonsten sind Bestimmungen mit Bezug zur Weiterentwicklung des Völkerrechts ausgesprochen selten. Sie finden sich nur in der Verfassung von Surinam und in dem Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) aus dem Jahre 2004.[5]
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Das Königreich der Niederlande besteht gegenwärtig aus dem europäischen Teil der Niederlande sowie den Hoheitsgebieten Niederländische Antillen und Aruba. Als Staat ist das Königreich der Niederlande einschließlich seiner überseeischen Hoheitsgebiete Mitglied in der Völkerrechtsgemeinschaft. Nur das Königreich der Niederlande kann Partei eines völkerrechtlichen Vertrages sein, nicht dagegen der europäische Teil oder die Hoheitsgebiete. Die Verträge werden im Namen der Krone geschlossen und im niederländischen Gesetzblatt (Tractatenblad) bekannt gemacht. Im Hinblick auf die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften bestanden die Niederlande – in einem Protokoll zum EG-Vertrag – auf einer Ausnahme von der allgemeinen Regel des Völkerrechts, nach welcher Verträge grundsätzlich für das gesamte Staatsgebiet des Königreichs der Niederlande gelten (Art. 299 Abs. 1 EG). Der EG-Vertrag wurde ursprünglich nur für den europäischen Teil des Königreichs der Niederlande sowie Niederländisch Neu-Guinea ratifiziert (somit nicht für die Hoheitsgebiete Surinam und Niederländische Antillen). Heute besteht das Königreich der Niederlande nur noch aus den Hoheitsgebieten Niederländische Antillen und Aruba. Das Rechtsverhältnis dieser „überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“ zur Europäischen Union ist in Art. 299 Abs. 3 EG-Vertrag geregelt, demzufolge das besondere Assoziierungssystem gilt, das im Vierten Teil des EG-Vertrages festgelegt ist.[6] Auch der Abschluss des EU-Vertrages und die Änderungen des EG-Vertrages erfolgten im Namen des Königreichs der Niederlande. Sie wurden jedoch nicht für die Hoheitsgebiete Niederländische Antillen und Aruba ratifiziert. Da sich Entscheidungen auf europäischer Ebene auch auf die überseeischen Hoheitsgebiete auswirken können, sieht das Gesetz über das Königreich der Niederlande in diesen Fällen vor, dass die überseeischen Hoheitsgebiete unterrichtet werden müssen, bevor die niederländische Regierung ihre Zustimmung erteilt.[7] Aufgrund der offenen Haltung gegenüber dem Völkerrecht sind Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen gemäß der niederländischen Verfassung Bestandteil der niederländischen Rechtsordnung. In Art. 93 Grondwet heißt es: „Bestimmungen von Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können, haben Verbindlichkeit nach ihrer Verkündung.“
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Die Grenzen dieser Bestimmung liegen auf der Hand. Zum einen umfasst sie nicht alle Regeln und Grundsätze des Völkerrechts. Während zuweilen behauptet wird, dass es nach der monistischen Theorie keinen Sinn mache, zwischen Vertrags- und Gewohnheitsrecht zu unterscheiden, gilt jedoch gemäß Art. 93 Grondwet nur geschriebenes Völkerrecht in Form völkerrechtlicher Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen unmittelbar in der niederländischen Rechtsordnung. Im Jahre 1959 entschied der oberste Gerichtshof der Niederlande (Hoge Raad) im Fall Nyugat, dass aus der ausdrücklichen Bezugnahme der niederländischen Verfassung auf Verträge und Beschlüsse internationaler Organisationen e contrario folge, dass diesen eine andere Stellung als dem Gewohnheitsrecht zukomme.[8] Die Regierung wie auch das Parlament schlossen sich dieser einschränkenden Auslegung an, als die Verfassung im Jahre 1983 geändert wurde. Und in der Tat entschied der Hoge Raad im Jahre 2001, dass der Befehlshaber der surinamischen Armee, Désiré Delano Bouterse, nicht in den Niederlanden verfolgt werden könne, da eine geschriebene Bestimmung des innerstaatlichen Rechts (das strafprozessuale Gesetzlichkeitsprinzip) nicht von einer ungeschriebenen völkerrechtlichen Regel (dem Folterverbot, welches zum Tatzeitpunkt im Jahre 1982 noch nicht kodifiziert war) verdrängt werden könne.[9] Zum anderen unterliegt Art. 93 Grondwet dem einschränkenden Merkmal der unmittelbaren Anwendbarkeit der Bestimmungen („die allgemeinverbindlich sein können“). Voraussetzung hierfür ist, dass die Bestimmung des Völkerrechts überhaupt vor niederländischen Gerichten geltend gemacht werden kann, wodurch jedoch nicht die Geltung anderer völkerrechtlicher Bestimmungen in der niederländischen Rechtsordnung in Frage gestellt wird. Bedeutung hat dieses Merkmal insbesondere in Verbindung mit einem anderen Rechtsgrundsatz, welcher das Verhältnis zwischen dem niederländischen Recht und dem Völkerrecht regelt, nämlich dem des Vorrangs des Völkerrechts. So heißt es in Art. 94 Grondwet: „Innerhalb des Königreichs geltende gesetzliche Vorschriften werden nicht angewandt, wenn die Anwendung mit allgemeinverbindlichen Bestimmungen von völkerrechtlichen Verträgen und Beschlüssen internationaler Organisationen nicht vereinbar ist.“
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Dieser Grundsatz war erstmals in der Verfassungsänderung aus dem Jahre 1953 enthalten. Die Einschränkung auf „Bestimmungen von Verträgen, die ihrem Inhalt nach allgemeinverbindlich sein können“ wurde ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen, damit die Gerichte Verträge nicht auch dann zulasten des niederländischen Rechts anwenden, wenn keine individuellen Interessen berührt sind. Ob eine bestimmte Vertragsbestimmung unmittelbar wirksam ist, entscheiden die Gerichte. Bei der Entscheidungsfindung stützen sie sich auf die Rechtsnatur des Vertrages und die seiner einzelnen Bestimmungen.
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Kurz gesagt kann auf diese