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Dies erklärt, weshalb sowohl die Regierung als auch die beiden Kammern des Parlaments von der Vereinbarkeit des EGKS-Vertrages und später des EG-Vertrages mit der niederländischen Verfassung ausgegangen sind und weshalb eine gründliche Debatte über die dabei möglicherweise auftretenden verfassungsrechtlichen Probleme ausgeblieben ist.[42] Sogar Verträge, die Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Rechtsprechung auf internationale Gerichtshöfe übertragen, weichen nach dieser Auffassung nicht von den Verfassungsbestimmungen ab, welche die Befugnisse und die Ernennung der niederländischen Richter regeln.[43]
b) Die Ratifikation des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union
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In Art. 91 Abs. 3 Grondwet ist ein Verfahren für den Fall vorgesehen, dass Verträge von den Bestimmungen der Verfassung abweichen (siehe unten, Rn. 26 ff.). Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza wurden alle ohne Rückgriff auf Art. 91 Grondwet angenommen und ratifiziert, da sie (offensichtlich) nicht gegen die Verfassung verstießen und somit auch keine Notwendigkeit gegeben war, von ihren Bestimmungen abzuweichen.[44] Dagegen gab es einige Diskussionen darüber, ob möglicherweise die Einführung der Europäischen Währungseinheit ECU, die später Euro genannt wurde, gegen Art. 106 Grondwet verstößt, welcher wie folgt lautet: „Das Währungssystem ist durch Gesetz geregelt.“ Diese Bestimmung kam im Zuge der Verfassungsänderungen des Jahres 1983 in die Verfassung.[45] Mit ihr wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber sicherstellen, dass die niederländische Währung (der Gulden) nur dann für eine europäische Währung aufgegeben wird, wenn die Zustimmung beider Häuser des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit vorliegt.[46] Während des Gesetzgebungsverfahrens bestand man jedoch nicht mehr auf der qualifizierten Mehrheit, sondern legte dar, dass der Antrag zur Verfassungsänderung nur sicherstelle, dass derartige Entscheidungen ausschließlich im Wege des normalen Gesetzgebungsverfahrens getroffen werden. Daher wurden bei der Gründung der Europäischen Währungsunion durch Vertrag letztendlich keine Einwände erhoben.[47] Da sonst keine Schwierigkeiten bestanden, kam der Gesetzgeber zu dem Ergebnis, dass der Vertrag von Maastricht nicht gegen die niederländische Verfassung verstieß.
c) Die Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza
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Auch die Verfahren zur Ratifikation der Verträge von Amsterdam und Nizza waren durch das Ausbleiben einer verfassungsrechtlichen Diskussion gekennzeichnet. Die niederländische Regierung verteidigte beide Verträge vor dem Parlament damit, dass die Verträge zwar in einigen Punkten hinter den niederländischen Vorstellungen zurückblieben, in der vorliegenden Form aber ein Gesamtpaket bildeten, welches „einen bedeutenden Schritt nach vorne“ darstelle.[48] In der Parlamentsdebatte ging es vor allem um inhaltliche und weniger um verfassungsrechtliche Streitfragen.[49] So gab Senator van der Linden zu Protokoll: „[…] wir müssen feststellen, dass das erreichte Ergebnis in wichtigen Punkten hinter dem von der niederländischen Regierung erwünschten zurückbleibt. Es kommt dem einerseits so nahe, dass man es nicht ablehnen kann, reicht andererseits aber nicht aus, um der EU vollständige Aufnahmebereitschaft attestieren zu können.“ Andere Kommentatoren bezeichneten den Vertrag als ein „dürftiges Ergebnis“[50] oder als ein „Produkt verfestigter Nationalinteressen und völliger Einfallslosigkeit“[51]. Es hieß, „die Visionäre von Nizza haben offensichtlich dem Augenarzt einen Besuch abgestattet.“[52] Einige niederländische Abgeordnete des Europäischen Parlaments rieten sogar ihren Kollegen im nationalen Parlament dazu, gegen den Vertrag zu stimmen.[53]
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Es gab ungeachtet dieser Kritikpunkte jedoch auch einiges Lob für das Verhandlungsergebnis der Regierungskonferenzen. Die niederländischen Parlamentsabgeordneten (beider Kammern) begrüßten die Übertragung der Innen- und Rechtspolitik in die erste Säule der EU, die Neuorganisation und mögliche Verbesserung der Arbeitsweise des Europäischen Gerichtshofs, die stärkere Stellung der Europäischen Kommission sowie die leichteren Voraussetzungen im Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit. Hieran gefiel insbesondere die Tatsache, dass kein Mitgliedstaat sein Veto gegen eine derartige Zusammenarbeit einlegen kann. Das Verfahren gilt als eine vielversprechende Ergänzung sowie als ein dynamisches Element des europäischen Integrationsprozesses insbesondere in Fällen, in denen das herkömmliche Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung zu kurz greift.
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Im gleichen Zeitraum, während des Jahres 2001, warfen drei Senatoren die Frage auf, ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht in irgendeiner Art und Weise in der niederländischen Verfassung verankert werden sollte.[54] Ihnen wurde die Unterstützung des Staatsrats (Raad van State) zuteil, der feststellte: Weil die Europäische Union sich ausdrücklich als eine Verfassungsordnung versteht, sei es nicht länger ausreichend, die Mitgliedschaft in der EU auf dieselben Normen zu gründen wie die Mitgliedschaft in anderen internationalen Organisationen.[55] Aus diesem Grund empfahl der Staatsrat, den Art. 92 Grondwet so zu ändern, dass das besondere Verhältnis zwischen der europäischen Verfassungsordnung und der Verfassung des Königreichs der Niederlande Berücksichtigung findet. Der Staatsrat schlug insbesondere vor, dass die Regierung sorgfältig untersuchen sollte, wie die europäische Integration sich auf die verfassungsrechtlichen Beziehungen in den Niederlanden auswirkt und wie die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene mit dem niederländischen Verfahren in einen engeren systematischen Zusammenhang gebracht werden kann. Der Staatsrat stellte weiterhin fest, dass mehr und mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden und sich somit das Schwergewicht der Entscheidungsfindung dorthin verlagert. Die Tatsache, dass der niederländische Gesetzgeber einige seiner Hoheitsrechte auf Brüssel übertragen hat, wirkt sich auch auf das Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen aus. Schließlich sind die Regierung und das Parlament nicht mehr nebeneinander für die Gesetzgebung zuständig. Stattdessen nimmt die Regierung zunehmend die Rolle des Verhandlungsführers auf europäischer Ebene wahr, während das Parlament immer häufiger nur den Verhandlungsauftrag erteilt und die Kontrolle ausübt.[56] Die Regierung nahm die Empfehlung des Staatsrates an und kündigte für das Jahr 2005 einen offiziellen Bericht zu diesem Thema an.[57] In diesem Bericht wird die Regierung auf die Rolle der politischen Akteure in den jeweiligen Abschnitten des „Verfahrens zur europäischen Rechtsetzung“ eingehen, angefangen mit den Vorbereitungen bis zur Festlegung der innerstaatlichen Durchführungsbestimmungen von europäischen Verordnungen. In diesem Zusammenhang steht auch die Antwort der Regierung auf den Antrag des Senators Jurgens und anderer Senatoren.[58] Darin wird die Regierung ihre Auffassung zu der Frage darlegen, ob das besondere Verhältnis zur Europäischen Union in irgendeiner Art und Weise in der niederländischen Verfassung verankert werden muss, und wie die parlamentarische Mitwirkung auch in den Fällen gewährleistet werden kann, in denen das beschleunigte Rechtsetzungsverfahren angewandt wird.
d) Die Ratifikation des Vertrages über eine Europäische Verfassung
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Eine verfassungsrechtliche Debatte kam wieder auf, als in den Jahren 2004 und 2005 über den Rang des Europäischen Verfassungsvertrages im Verhältnis zur niederländischen Verfassung gestritten wurde. Sowohl der Staatsrat als auch die Regierung haben zu diesem Thema umfassend Stellung genommen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Europäische Verfassungsvertrag nicht gegen die niederländische Verfassung verstößt. Daher sei dieser auch nicht gemäß Art. 91 Grondwet zustimmungsbedürftig. In der Diskussion wurden folgende Fragen aufgeworfen:[59]
– In Art. I-6 VVE ist das Prinzip des Vorrangs des Europarechts vor innerstaatlichem Recht enthalten. Dieses Prinzip ist für die europäische