– Welche Rechte hat das Parlament, wenn es um die Feststellung geht, ob europäische Verordnungen bzw. Rahmenbeschlüsse gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen? Im Ergebnis verstoßen weder Art. I-11 Abs. 3 VVE noch das Subsidiaritätsprotokoll gegen die niederländische Verfassung. Erstens gewährt Art. I-11 VVE dem Parlament ein neues Recht, welches nicht auf die niederländische Verfassung zurückzuführen ist. Zweitens scheint Art. I-11 VVE weder gegen irgendeines der dem Parlament gemäß der niederländischen Verfassung zustehenden Rechte zu verstoßen, noch beeinflusst er das Parlament bei der Ausübung dieser Rechte.
– Art. I-13 Abs. 1 VVE enthält eine Aufzählung der ausschließlichen Zuständigkeiten der Europäischen Union. In diesen Bereichen haben die Mitgliedstaaten keine Zuständigkeiten mehr. Die Regierung ist übereinstimmend mit dem Staatsrat der Ansicht,[62] dass mit diesem Artikel lediglich bereits bestehende Bestimmungen und Rechtsprechung kodifiziert werden sollen. Wiederum gewährleistet Art. 92 Grondwet, dass die Übertragung von Hoheitsrechten nicht gegen die niederländische Verfassung verstößt.
– Art. I-14 VVE zählt die Zuständigkeiten auf, die sich die Europäische Union mit den Mitgliedstaaten teilt. Die Regierung vertritt auf der Grundlage der Stellungnahme des Staatsrats[63] die Auffassung,[64] dass dieser Artikel weder neue Zuständigkeiten schafft noch die gegenwärtige Aufteilung der Zuständigkeiten ändert. Es handele sich lediglich um eine Neuordnung der bestehenden Zuständigkeiten.
– Gemäß Art. III-364 VVE kann durch eine Verordnung dem Europäischen Gerichtshof die Zuständigkeit übertragen werden, über Rechtsstreitigkeiten bezüglich geistigen Eigentums zu entscheiden. Auf der Grundlage dieses Artikels und der entsprechenden Verordnung würden Rechtsstreitigkeiten bezüglich europäischer Patente von dem Europäischen Gerichtshof und nicht von niederländischen Gerichten entschieden werden. Dies würde auf die Einführung einer weiteren ausschließlichen Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs hinauslaufen, wodurch die Zuständigkeit der niederländischen Gerichte aufgehoben wäre. Diese Möglichkeit bestand bereits auf der Grundlage von Art. 229a EG-Vertrag, jedoch konnte demgemäß eine solche Entscheidung nur unter der Voraussetzung getroffen werden, dass die Mitgliedstaaten diese Bestimmung gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften annahmen. Im Falle der Niederlande würde demzufolge das normale Vertragsannahmeverfahren zur Anwendung kommen. Da diese Voraussetzung jedoch in Art. III-364 VVE entfallen ist, könnte ein Verstoß gegen Art. 112 Abs. 1 Grondwet vorliegen. Dieser Artikel lautet: „Der richterlichen Gewalt obliegt die Rechtsprechung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und in Bezug auf Schuldforderungen.“ Die amtliche Begründung zu Art. 112 Grondwet gibt keinen Aufschluss in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit von Art. III-364 VVE. In einigen Fällen (wie z.B. dem Lockerbie-Vertrag[65] und dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs[66]) war die Regierung im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters der Auffassung, dass dieser nicht notwendigerweise ein niederländischer Richter sein müsse, sofern wirksamer Rechtsschutz gewährleistet werde.[67] Das Parlament hat diese Auffassung gebilligt. Daher liegt kein Widerspruch zu Verfassungsbestimmungen vor, wenn Gewähr dafür besteht, dass es einen Richter gibt, der in diesen Fällen wirksam Recht sprechen kann, und der Grundsatz der Gewaltenteilung eingehalten ist. Da der Europäische Gerichtshof in der Lage sein müsste, wirksamen Rechtsschutz in Streitigkeiten über geistiges Eigentum zu gewährleisten, scheint hier kein Verfassungsverstoß vorzuliegen. Die Tatsache, dass bei der Einführung von Art. 92 in die niederländische Verfassung keine besonderen Bestimmungen in Bezug auf Art. 112 Grondwet aufgenommen wurden, scheint diese Annahme zu bestätigen. Daher ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber stillschweigend auch die in Art. III-364 VVE angelegten Situationen in Betracht gezogen hat. Daher können sogar Hoheitsrechte auf dem Gebiet der Rechtsprechung auf den Europäischen Gerichtshof übertragen werden, ohne dass dadurch ein Widerspruch zur niederländischen Verfassung hervorgerufen wird.
3. Die Annahme von gegen die Verfassung verstoßenden Verträgen
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Für den Fall, dass sich aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union möglicherweise Widersprüche zur niederländischen Verfassung ergeben, ist in Art. 91 Abs. 3 Grondwet die Möglichkeit vorgesehen, von den Bestimmungen der Verfassung abzuweichen. Alle verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu den auswärtigen Beziehungen, einschließlich Art. 91 Grondwet, wurden während der Verfassungsrevision im Jahr 1953 umfassend verändert und erneuert. Die Verfassungsänderungen basierten auf den Berichten zweier Kommissionen,[68] der Staatskommission zur Verfassungsreform (Ausschuss van Schaik) und der Kommission zur Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament im Bereich auswärtiger Angelegenheiten (Ausschuss Eysinga). Beide Berichte kamen zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich weder die Regierung noch das Parlament befugt ist, Verträge anzunehmen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen.[69] Während der Vorbereitungen zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft[70] hat dieser Standpunkt jedoch Probleme hervorgerufen, da dieser Vertrag möglicherweise von Verfassungsbestimmungen abwich bzw. eine solche Abweichung erforderlich machte. Die Regierung ersuchte den Staatsausschuss um Stellungnahme zu dieser Frage. Der Staatsausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die Regierung sowie die Mitglieder der Länderkammer durch den Treueschwur auf die Verfassung an deren Bestimmungen gebunden sind. Dies schließe aber im Allgemeinen nicht aus, dass der Gesetzgeber das Königreich der Niederlande an Verträge binden kann, welche von Verfassungsbestimmungen abweichen bzw. solche Abweichungen erforderlich machen.[71] Auf der Grundlage dieser Stellungnahme schlug die Regierung die Aufnahme einer Bestimmung in die Verfassung vor, nach welcher solche Verträge nur mit derselben qualifizierten Mehrheit angenommen werden können, die auch in der zweiten Lesung von Gesetzen zur Verfassungsänderung erforderlich ist.[72] Da ein von den Bestimmungen der Verfassung abweichender Vertrag im Ergebnis eine Verfassungsänderung darstellt, bedarf es zur Annahme dieses Vertrages richtigerweise ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments.[73] Im Ergebnis führte dies zur Einführung von Art. 63 in die niederländische Verfassung im Jahr 1953. Infolge der Verfassungsrevision im Jahr 1983 wurde hieraus der derzeitige Art. 91 Abs. 3 Grondwet: „Enthält ein Vertrag Bestimmungen, die von der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen, können die Kammern ihre Zustimmung durch Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen erteilen.“ Ein in der Praxis näherliegender Grund zur Einführung von Art. 91 Abs. 3 in die niederländische Verfassung ist die Tatsache, dass Verfassungsänderungen in den Niederlanden viel Zeit in Anspruch nehmen.[74] Art. 91 Abs. 3 Grondwet sieht im Gegensatz zur Verfassungsänderung ein kurzes und praxisgerechtes Verfahren vor, da ein Zuwarten bis zu den nächsten Wahlen nicht immer möglich oder ratsam ist.[75]
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Demzufolge erfordert das Inkrafttreten eines von den Bestimmungen der Verfassung abweichenden Vertrages auf der Grundlage von Art. 91 Abs. 3 Grondwet keine vorhergehende Verfassungsänderung, sofern das Zustimmungsgesetz zum Vertrag mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wird.[76] Die Frage, ob ein Vertrag von den Bestimmungen der Verfassung abweicht, wird mit einfacher Mehrheit entschieden. Auch wenn dies ungewöhnlich erscheinen mag, so gibt es hierfür doch einen sehr praktischen Grund. Dieser liegt in der Tatsache, dass Art. 6 des Gesetzes über die Zustimmung zu und Bekanntmachung von internationalen Verträgen eine Zustimmung durch Gesetz für Verträge erfordert, die gegen Bestimmungen der Verfassung verstoßen. In diesem Zustimmungsgesetz muss festgestellt werden, dass der Vertrag gegen Verfassungsbestimmungen verstößt und somit Art. 91 Abs. 3 Grondwet berücksichtigt werden muss. Es ist die Aufgabe der Regierung, in dem Zustimmungsgesetz des Parlaments auf die Abweichung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet in einer Klausel hinzuweisen. Sollte die Regierung einen Hinweis auf Art. 91 Abs. 3 Grondwet unterlassen, während die Zweite Kammer aber der Meinung ist, dass der Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht, so wird die Zweite Kammer das Gesetz im Änderungsverfahren um die Abweichungsklausel